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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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tiefere Wahrnehmungsschichten und schließlich unser gesamtes Sein in Anspruch nimmt. Ein Mädchen mit rotblondem Haar, das von einem Spaziergang heimzukommen schien und eine Gartenschaufel in der Hand trug, hob ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht und schaute zu uns herüber. 1 Ihre schwarzen Augen blitzten, und da ich damals so wenig wie später einen starken Eindruck in seine objektiven Bestandteile zu zerlegen verstand, weil ich nun einmal nicht, wie man es nennt, genügend »Beobachtungsgabe« besaß, um einen deutlichen Begriff von der Farbe dieser Augen zu gewinnen, hat sich mir lange Zeit hindurch, so oft ich an sie dachte, in der Erinnerung ihr Leuchten wie das von einem kräftigen Azurblau dargestellt, weil sie nun einmal blond war: so daß ich mich, wenn sie nicht so schwarze Augen gehabt hätte – was bei ihrem ersten Anblick so ganz besonders auffiel –, vielleicht nicht, wie es tatsächlich geschah, mehr als inirgend etwas anderes an ihr, in ihre blauen Augen verliebt hätte.
    Ich betrachtete sie zunächst mit einem Blick, der nicht nur das Sprachrohr der Augen ist, sondern wie ein Fenster, durch das sich alle Sinne angstvoll und wie versteinert neigen, einem Blick, der Leib und Seele dessen, was er anschaut, berühren, einfangen, mit sich forttragen möchte; dann aber mit einem zweiten, in den ich in meiner Todesangst, mein Großvater und mein Vater könnten das Mädchen bemerken und mich von ihr entfernen, indem sie mich vor sich hergehen hießen, unbewußt einen flehentlichen, an sie gerichteten Appell legte, durch den ich sie zwingen wollte, von mir Notiz zu nehmen und meine Bekanntschaft zu machen. Sie ließ ihre Augäpfel nach vorn und nach der Seite rollen, um meinen Großvater und meinen Vater mit dem Blick zu umfassen, und zweifellos nahm sie den Eindruck davon mit, daß wir lächerliche Leute seien, denn mit gleichgültiger und nichtachtender Miene wandte sie sich ab und stellte sich so hin, daß ihr Gesicht nicht in das Blickfeld der beiden anderen fiel; als sie weitergingen, ohne sie zu bemerken, schoß sie einen langen Blick zu mir herüber, der ganz ohne Ausdruck war und mir gar nicht zu gelten schien, aber so starr und mit einem versteckten Lächeln darin, daß ich ihn aufgrund der Vorstellungen von guter Erziehung, die man mir beigebracht hatte, nur als eine Bekundung äußerster Verachtung auffassen konnte; gleichzeitig machte sie flüchtig mit der Hand eine nicht ganz anständige Bewegung, die, wenn sie öffentlich einem Unbekannten gegenüber ausgeführt wurde, nach dem kleinen Höflichkeitskodex, den ich in mir trug, eindeutig eine ganz bewußte Ungezogenheit war.
    »Gilberte, komm auf der Stelle her; was machst du denn da«, rief die energisch befehlende Stimme einer Dame in Weiß, die ich bislang nicht gesehen hatte undneben der in einer gewissen Entfernung ein Herr in Zwillichjacke und -hose stand, der mir unbekannt war; er starrte mich aus leicht hervortretenden Augen an; das Mädchen hörte plötzlich auf zu lächeln, nahm die Schaufel und entfernte sich, ohne sich nach mir umzudrehen, mit gefügiger, undurchdringlicher und etwas tückischer Miene.
    So klang dicht neben mir der Name Gilberte auf, mir geschenkt wie ein Talisman, der mir vielleicht erlauben würde, eines Tages diejenige wiederzufinden, die er aus einem eben noch ganz ungewissen Bild zu einer wirklichen Person umgeschaffen hatte. So klang er auf, über Jasmin und Levkojen hinweg, scharf und kühl wie die Tropfen aus dem grünen Gartenschlauch; er füllte die klare Luftzone, die er durcheilt und völlig von allem anderen abgetrennt hatte, mit dem Duft und dem Farbenspiel, die dem Geheimnis des Lebens derjenigen innewohnten, die für die glücklichen Wesen, die mit ihr lebten und reisten, sein Klang bezeichnete; unter dem rosa Blütenbusch in Schulterhöhe ließ er die verdichtete Essenz einer für mich so schmerzlichen Vertrautheit mit ihr erstehen, mit dem Unbekannten ihres Lebens, zu dem ich keinen Zugang haben würde.
    Einen Augenblick lang (während wir uns entfernten und mein Großvater murmelte: »Dieser arme Swann, was für eine lächerliche Rolle lassen sie ihn spielen: sie sorgen, daß er abreist, damit sie mit ihrem Charlus allein bleiben kann, denn er war es, ich habe ihn erkannt! Und das kleine Mädchen ziehen sie auch in diese Infamie mit hinein!«) beschwichtigte der Eindruck von Gilbertes Mutter, deren Befehlen sie ohne Widerrede gehorchte, mein Leiden insofern etwas, als ich daraus ersah,

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