Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
eines nicht zu ermittelnden Baumes war ein unsichtbarer Vogel bemüht, sich den Tag zu verkürzen; mit einem lang angehaltenen Ton versuchte er die Einsamkeit auszuloten, doch er erhielt eine so einhellige Antwort, eine Art Resonanz aus nichts als Schweigen und tiefer Ruhe, daß es schien, als hielte er nun für immer den Augenblick fest, den er eben noch versucht hatte, schnell zum Enteilen zu bringen. Das Licht fiel so erbarmungslos von einem erstarrten Himmel herab, daß man sich gern seiner Aufmerksamkeit entzogenhätte, und das schlafende Wasser, dessen Ruhe die Insekten unaufhörlich durchschwirrten, träumte sicherlich von irgendeinem eingebildeten Maelstrom und vermehrte die Unruhe, in die mich der Anblick des Korkschwimmers gestürzt hatte, indem es ihn in großer Geschwindigkeit in die schweigenden Weiten des widergespiegelten Himmels hineinzuziehen schien; fast vertikal gestellt, schien er eintauchen zu wollen, und ich fragte mich, ob ich nicht ganz unabhängig von dem Wunsch und der Furcht, sie kennenzulernen, einfach die Pflicht hätte, Mademoiselle Swann darauf aufmerksam zu machen, daß ein Fisch angebissen habe – als ich feststellte, daß ich laufen mußte, um meinen Vater und meinen Großvater einzuholen; beide riefen mich, erstaunt darüber, daß ich ihnen nicht auf dem kleinen Pfad in die Felder gefolgt war, den sie eingeschlagen hatten. Wie ich ihn betrat, wurde ich vom summenden Duft des Weißdorns völlig umhüllt. Die Hecke bildete gleichsam eine Folge von Kapellen, die unter dem Schmuck der wie auf Altären dargebotenen Blüten verschwanden; unter ihnen zeichnete die Sonne auf den Boden ein lichtes Gitterwerk, so als fiele ihr Schein durch ein Kirchenfenster; ihr Duft strömte sich so weich und in seiner Eigenart so deutlich bestimmt aus, als ob ich mich vor dem Altar der Muttergottes befunden hätte, und die genauso geschmückten Blüten trugen eine jede mit gleicher unbeteiligter Miene ihr schimmerndes Sträußchen aus Staubgef äßen, feine glitzernde Rippen im spätgotischen Stil wie die, die in der Kirche das Gitter des Lettners durchzogen oder die Kreuze der Buntglasfenster, die aber hier die weiße sinnliche Fülle von Erdbeerblüten hatten. Wieviel naiver und bäuerlicher wirkten im Vergleich dazu die Heckenrosen, die in wenigen Wochen im vollen Sonnenschein den gleichen ländlichen Weg erklimmen würden, mit der glatten Seide ihresrötlichen Mieders bekleidet, das der leiseste Hauch zerflattern macht.
    Ich mochte mich indessen noch so lange vor dem Weißdorn aufhalten, ihn riechen, in meinen Gedanken, die nichts damit anzufangen wußten, seinen unsichtbaren, unveränderlichen Duft mir vorstellen, ihn verlieren und wiederfinden, mich eins fühlen mit dem Rhythmus, in dem sich seine Blüten in jugendlicher Munterkeit und in Abständen, die so unerwartet waren wie gewisse musikalische Intervalle, hierhin und dorthin wendeten; sie entfalteten für mich immer nur den gleichen Reiz in unerschöpflicher Fülle, aber ohne daß ich tiefer in ihn einzudringen vermochte, so wie es gewisse Melodien gibt, die man hundertmal hintereinander spielt, ohne in der Entdeckung ihres Geheimnisses einen Fortschritt zu machen. Einen Augenblick wandte ich mich von ihnen ab, um ihnen dann wieder mit frischeren Kräften gegenüberzutreten. Ich folgte nun mit dem Blick bis zur Böschung, die hinter der Weißdornhecke steil zu den Feldern aufstieg, einigen vereinzelten Mohnblumen und träge zurückgebliebenen Kornblumen, die hier und da ihre Blüten in den Hang eingewirkt hatten, so wie in weitläufigen Abständen am Rand einer Stickerei das pflanzliche Motiv erscheint, das erst in der Mittelpartie sich völlig entfalten wird; selten noch und lückenhaft wie die Häuser, mit denen sich die Nähe eines Dorfes ankündigt, zeigten sie mir die ungeheuren weizenwogenden Weiten an, über denen sich Wolken kräuselten, und der Anblick einer einzigen Mohnblüte, die am Ende ihres Tauwerks im Wind die rote Flamme aufzüngeln ließ über der schwarzen, wie ölgetränkten Boje, ließ mein Herz höher schlagen wie das eines Reisenden, der in der Nähe des Ufers eine erste gestrandete Barke erblickt, an der ein Kalfaterer gerade die Schäden behebt, und, bevor er es noch wirklich gesehen hat, ausruft: »Das Meer!«
    Dann kehrte ich zu dem Weißdorn zurück wie zu einem Kunstwerk, von dem man meint, man könne es besser betrachten, wenn man es einen Augenblick inzwischen nicht angeschaut hat; doch es nützte nichts, daß ich

Weitere Kostenlose Bücher