Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Combray gingen, kam aus einer anderen Vinteuil hervor und stand zu plötzlich vor uns, um uns noch aus dem Weg gehen zu können; und Swann, mit der hochmütigen Großherzigkeit eines Weltmannes, der, sowieso im Begriff, alle moralischen Vorurteile abzulegen, in der Schmach des anderen nur einen Grund sieht, ihn mit einem Wohlwollen zu behandeln, das um so mehr der Eigenliebe dessen schmeichelt, der es erweist, als er es ungemein wertvoll weiß für den, dem er es entgegenbringt, plauderte lange mit Monsieur Vinteuil, an den er früher nie das Wort gerichtet hatte, und bevor wir uns trennten, bat er ihn sogar, er möge doch seiner Tochter erlauben, einmal nach Tansonville zu kommen und dort etwas vorzuspielen. Eine solche Einladung, die vor zwei Jahren noch bei Vinteuil auf Entrüstung gestoßen wäre, erfüllte ihn jetzt mit solchen Gefühlen der Dankbarkeit, daß er sie aus Takt ablehnen zu müssen glaubte. Die Liebenswürdigkeit Swanns seiner Tochter gegenüber erschien ihm an sich schon als eine so ehrenvolle undköstliche Stärkung seiner Position, daß er meinte, es sei vielleicht besser, keinen Gebrauch davon zu machen und so das völlig platonische Glück zu genießen, sie ungenutzt aufzubewahren.
»Was für ein ungewöhnlicher Mann«, sagte er zu uns, als Swann uns verlassen hatte, mit der gleichen enthusiastischen Verehrung, die kluge und hübsche Frauen bürgerlicher Herkunft veranlaßt, ehrfurchtsvoll und bezaubert zu einer Herzogin aufzublicken, wenn sie auch dumm und häßlich ist. »Was für ein ungewöhnlicher Mann! Wie schade, daß er diese so ganz und gar unpassende Ehe geschlossen hat.«
Und so heuchlerisch sind auch die ehrlichsten Menschen, so sehr stellen sie im Gespräch mit einem anderen ihre Meinung über ihn zurück, zu der sie sich doch gleich wieder bekennen, wenn er nicht mehr anwesend ist, daß meine Eltern Swanns Heirat zusammen mit Vinteuil im Namen von Prinzipien und Konventionen beklagten, deren Verletzung in dessen eigenem Haus in Montjouvain sie (dadurch, daß sie gemeinsam mit ihm unter rechtschaffenen Leuten vom gleichen Schlag ihre Gültigkeit verfochten) stillschweigend übergingen. Vinteuil schickte seine Tochter nicht zu Swann. Dieser war der erste, der dies bedauerte. Denn wann immer er sich von Vinteuil getrennt hatte, war ihm wieder in den Sinn gekommen, daß er ihn eigentlich schon seit längerem um eine Auskunft über jemanden bitten wollte, der den gleichen Namen trug und, wie er annahm, ein Verwandter von ihm war. Diesmal nun hatte er sich fest vorgenommen, seine Frage nicht zu vergessen, wenn Vinteuil seine Tochter nach Tansonville schicken würde.
Da der Spaziergang in Richtung Méséglise der weniger ausgedehnte von den beiden war, die wir von Combray aus unternahmen, und da wir ihn uns infolgedessen für unsicheres Wetter aufsparten, war das Klima derGegend von Méséglise ziemlich regnerisch, und wir behielten immer den Wald von Roussainville im Auge, unter dessen dichtbelaubten Bäumen wir notfalls Schutz suchen konnten.
Oft versteckte sich die Sonne hinter einem Wolkengebilde, das ihr Oval 1 verformte und dessen Ränder sie gelblich tönte. Der Glanz, wenn auch nicht die Helligkeit, schwand dann von den Feldern, auf denen alles Leben zu stocken schien, während das Dörfchen Roussainville das Relief seiner weißen Firste mit bedrückend vollendeter Klarheit in den Himmel zeichnete. Ein leichter Wind störte eine Krähe auf, die in einiger Entfernung wieder zu Boden ging, und gegen den weißlichen Himmel erschienen die Wälder in der Ferne so blau wie auf Camaïeumalereien an den Kaminspiegeln alter Behausungen.
Zu anderen Malen aber begann der Regen zu fallen, den uns der kleine Kapuzenmann im Schaufenster des Optikers schon vorausgesagt hatte; wie Zugvögel, die gemeinsam den Abflug unternehmen, stürzten die Tropfen dichtgedrängt zusammen vom Himmel herab. Sie trennen sich nicht, sie weichen auf ihrem raschen Durchzug nicht vom Weg ab, sondern jeder bleibt an seinem Platz und zieht den folgenden hinter sich her, so daß der Himmel verdunkelter ist als beim Aufbruch der Schwalben. Wir flüchteten in den Wald. Als ihre Reise beendet schien, kamen noch ein paar Schwächere, Säumige hinterher. Wir aber verließen wieder unseren Unterschlupf, denn es gefiel den Tropfen im Laub, und der Boden war schon wieder fast trocken, als noch der eine oder der andere sich im Spiel auf den Rippen eines Blattes verweilte, an der Spitze hängenblieb, sich dort ausruhte, in
Weitere Kostenlose Bücher