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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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immer bei den Eltern derjenigen findet, mit der sie körperliche Beziehungen unterhält. Die physische Liebe, die zu Unrecht so verschrien ist, zwingt jeden Menschen in solchem Maße dazu, selbst die kleinsten ihm innewohnenden Mengen an Güte und Selbstaufgabe hervorzukehren, daß sie auch für die allernächste Umgebung sichtbar werden. Doktor Percepied, dem es seine rauhe Stimme und dicken Augenbrauen gestatteten, perfide zu sein, soviel er wollte, da er nicht danach aussah und niemals dadurch seinen unerschütterlichen, wiewohl völlig unverdienten Ruf als gutmütiger Polterer in Frage stellte, verstand es, den Pfarrer und alle sonstigen Zuhörer zum Tränenlachen zu bringen, wenn er in seinem derb-gemütlichen Ton erklärte: »Na ja, es scheint also, sie treibt Musik mit ihrer Freundin, die Mademoiselle Vinteuil. Sie scheinen erstaunt zu sein – wieso eigentlich? Erst gestern hat Gevatter Vinteuil es wieder zu mir gesagt. Schließlich darf das Mädel ja doch wohl musikliebend sein. Ich persönlich würde mich der künstlerischen Berufung der Kinder niemals entgegenstellen, auch Vinteuil tut das offenbar nicht. Und er selber treibt ja wohl auch Musik mit der Freundin seiner Tochter. Donnerwetter, wird da eins Musik gemacht in diesem Laden! Aber was lachen Sie denn so? Sie machen sogar zuviel Musik, diese Leute. Neulich habe ich Gevatter Vinteuil in der Nähe des Friedhofs getroffen. Er konnte sich tatsächlich kaum auf den Beinen halten.«
    Wir alle, die wir damals mitansehen mußten, wie Vinteuil allen Bekannten aus dem Weg ging, sich abwendete, wenn er sie auftauchen sah, wie er in wenigen Monaten zum alten Mann wurde, sich in seinen Kummer versenkte und zu keiner Anstrengung mehrimstande war, die nicht unmittelbar dem Glück seiner Tochter diente, wie er ganze Tage am Grab seiner Frau verbrachte – mußten einsehen, daß er auf dem besten Weg war, vor Kummer zu sterben, und konnten nicht umhin zu vermuten, daß er den Klatsch, der über ihn in Umlauf war, wohl erriet. Er kannte ihn und schenkte ihm am Ende auch Glauben. Es gibt vielleicht keinen Menschen, und wäre er noch so tugendhaft, den die Umstände nicht eines Tages dazu bringen können, in nächster Nachbarschaft des Lasters zu leben, das er mehr als alle verdammt – ohne daß er es übrigens ganz genau erkennt unter der besonderen Verkleidung, die es anlegt, um mit ihm in Kontakt zu kommen und ihm Leid zuzufügen: seltsame Reden, ein unerklärliches Verhalten an irgendeinem Abend von seiten des Wesens, das er andererseits aus so vielen Gründen liebt. Für einen Mann wie Vinteuil aber mußte das Sichschicken in eine jener Situationen, die man zu Unrecht für ein ausschließliches Privileg der Welt der Boheme ansieht, von ganz besonderem Kummer begleitet sein: Diese Situationen ergeben sich jedesmal dann, wenn ein Laster, das die Natur bei einem Kind oft nur durch Mischung der Tugenden seines Vaters und seiner Mutter entstehen läßt (so wie die Farbe der Augen zustande kommt), sich den Platz und die Sicherheit erobern will, die es nötig hat. Aus der Tatsache jedoch, daß Vinteuil vielleicht über das Verhalten seiner Tochter Bescheid wußte, folgt noch nicht, daß der Kult, den er mit ihr trieb, geringer wurde. Die Tatsachen dringen in den Bezirk nicht ein, in dem unser Glaube wohnt, sie haben ihn weder erzeugt, noch zerstören sie ihn; sie können ihn unaufhörlich widerlegen, ohne ihn abzuschwächen, und eine Lawine von pausenlos aufeinanderfolgenden Unglücks- und Krankheitsfällen in einer Familie läßt in dieser selbst keinen Zweifel an der Güte Gottes oder der Vortrefflichkeit ihres Arztesaufkommen. Wenn aber Vinteuil seine Tochter und sich selbst mit den Augen der anderen betrachtete, wenn er sich vorstellte, welchen Ruf sie genossen und welchen Platz sie in der allgemeinen Achtung einnahmen, dann urteilte er vom gesellschaftlichen Standpunkt aus genau in der Weise, wie es jeder Einwohner von Combray, ja sogar ein persönlicher Feind von ihm getan hätte: er sah sich mitsamt seiner Tochter tief gesunken, und daher hatte sein Auftreten seit einiger Zeit etwas so Demütiges bekommen, darum drückte sich darin ein solcher Respekt denen gegenüber aus, die über ihm standen und die er gleichsam von unten her sah (mochten sie auch vordem tief unter ihm gestanden haben), und jenes Bemühen, wieder zu ihnen emporzusteigen, das eine fast mechanische Reaktion auf einen solchen Abstieg ist. Eines Tages, als wir mit Swann durch eine Straße in

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