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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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der Sonne funkelte, um sich dann plötzlich von der ganzen Höhe des Zweiges heruntergleiten zu lassen, und uns auf die Nase fiel.
    Oft suchten wir auch Schutz mitten unter den Heiligen und Patriarchen aus Stein unter dem Portal von Saint-André-des-Champs. 1 Wie französisch diese Kirche doch war! Über der Tür waren Heilige und mittelalterliche Könige mit einer Lilienblüte in der Hand dargestellt, dazu Hochzeits- und Begräbnisszenen, so wie sie sich in der Seele von Françoise malen mochten. Der Steinmetz hatte auch gewisse Anekdoten über Aristoteles und Vergil 2 in der gleichen Weise wiedergegeben, in der Françoise in der Küche zum Beispiel von Ludwig dem Heiligen sprach, als habe sie ihn persönlich gekannt, meist so, daß meine Großeltern dabei schlecht wegkamen, weil sie nicht so »gerecht« waren wie er. Man spürte, daß die Vorstellungen, die der mittelalterliche Künstler und die mittelalterliche Bäuerin (die im neunzehnten Jahrhundert noch die Vergangenheit überlebte) von der Geschichte der antiken oder der christlichen Ära hatten und die sich durch ebenso große Ungenauigkeit wie durch schlichte Herzlichkeit auszeichneten, nicht aus Büchern stammten, sondern aus einer uralten, aber unmittelbaren, ununterbrochenen, durch mündliche Weitergabe bis zur Unkenntlichkeit entstellten, jedoch lebendigen Überlieferung. Eine andere Persönlichkeit, die ich ebenfalls als Typus prophetisch vorausgeschaut in den gotischen Skulpturen von Saint-André-des-Champs erkannte, war der junge Théodore, Camus’ Laufbursche. Françoise empfand ihn übrigens so sehr als Landsmann und Zeitgenosse, daß, wenn meine Tante Léonie zu krank war, als daß sie, Françoise, sie allein umbetten oder in ihren Lehnstuhl setzen konnte, sie lieber Théodore rief, als daß sie dem Küchenmädchen hinaufzugehen und sich »beliebt« zu machen erlaubte. Dieser Bursche nun, der mit gutem Grund als ein ziemlicher Strick galt, war so sehr desselben Geistes Kind wie der Schöpfer der Bildwerke vonSaint-André-des-Champs und namentlich auch von der Achtung erfüllt, die Françoise den »armen Kranken« und ihrer »armen Herrschaft« schuldig zu sein glaubte, daß er den Kopf meiner Tante mit der naiv eifrigen Miene der kleinen Engel vom Kopfkissen hob, die sich auf dem Flachrelief, eine Kerze in der Hand, um die schmerzvoll hinsinkende Muttergottes bemühten, als seien die Gesichter aus gemeißeltem Stein, grau und nackt wie ein kahler Wald, eine Art von eingewintertem Vorrat, der jeden Augenblick wieder lebendig werden konnte in den unzähligen Gesichtern des Volkes, die ehrwürdig, durchtrieben und mit dem Rot reifer Äpfel koloriert waren wie das Théodores. Nicht mehr an den Stein gebunden wie jene kleinen Engel, sondern aus dem Portal herausgelöst, von übermenschlicher Statur, auf einem Sockel wie auf einem Schemel stehend, damit sie die Füße nicht auf den feuchten Grund setzen müßte, stand eine Heilige mit ihren vollen Wangen und ihren festen Brüsten, die wie reife Trauben in einer Umhüllung aus Roßhaargewebe die Draperie schwellten, mit ihrer engen Stirn, ihrer kurzen schelmischen Nase, ihren tiefliegenden Augen, gesund, gefühllos und tüchtig gleich einer der Bäuerinnen dieser Gegend da. Diese Ähnlichkeit, die der Statue noch einen Zug von Sanftmut verlieh, den ich bei ihr nicht vermutet hätte, wurde oft durch irgendein Mädchen vom Felde bezeugt, das gleichfalls sich unterstellen kam und dessen Anwesenheit ebenso wie die der Blätter des Mauerkrauts, die dicht neben dem gemeißelten Laubwerk auftauchten, durch unmittelbare Gegenüberstellung mit der Natur gestattete, die Wahrheit des Kunstwerks zu beurteilen. Vor uns in der Ferne lag Roussainville, das gelobte oder das verfluchte Land, in dessen Mauern ich niemals eingedrungen bin; Roussainville wurde manchmal, wenn der Regen bei uns schon aufgehört hatte, noch weitergezüchtigt wie ein biblischer Ort, die Lanzen des Unwetters drangen schräg auf die Behausungen seiner Bewohner ein, oder aber es ward ihm von Gottvater verziehen, der dann – ähnlich den Strahlen, die auf dem Altar das Ciborium umgeben – die ungleichmäßig langen ausgefransten goldenen Pfeile der wiedererschienenen Sonne um das Dorf aufleuchten ließ.
    Manchmal wurde das Wetter endgültig schlecht, so daß wir nach Hause zurückkehren und dort bleiben mußten. Hier und da in der Ferne schimmerten dann in der Landschaft, die, dunkel und feucht, dem Meere glich, vereinzelte Häuser auf, die an

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