Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
einem in Nacht und Nässe versinkenden Hügel angeklammert hingen, wie kleine Boote, die ihre Segel eingeholt haben und unbeweglich draußen auf offenem Meer die Nacht verbringen. Doch was machte schon der Regen, was machten die Gewitter aus! Im Sommer ist das schlechte Wetter nur eine vorübergehende, oberflächliche Laune des darunter fest und beständig weiterlaufenden schönen Wetters, das, ganz verschieden von dem unbeständigen flüchtigen schönen Wetter des Winters, sich indessen fest auf der Erde niedergelassen hat in den dichten Blättern, von denen der Regen abtropfen kann, ohne sie in ihrem zäh beständigen Glück zu treffen, und das für die ganze Jahreszeit bis in die Dorfstraßen hinein an den Mauern der Häuser und Gärten seine Wimpel aus violetter und weißer Seide aufgehängt hat. In dem kleinen Salon sitzend, in dem ich die Stunde vor dem Abendessen mit meiner Lektüre verbrachte, hörte ich, wie das Wasser von unseren Kastanienbäumen tropfte, aber ich wußte, daß der Regenschauer ihre Blätter nur mit glänzender Nässe überzog, daß sie aber doch mit Sicherheit dableiben würden als Unterpfand des Sommers während der ganzen Regennacht, um die Beständigkeit des schönen Wetters zu garantieren; daß es ruhig regnenmochte, da morgen doch über dem weißen Gatter von Tansonville in so großer Zahl wie zuvor kleine herzförmige Blätter wogen würden; und ohne Trauer sah ich die Pappel in der Rue des Perchamps dem Unwetter mit verzweifelten und flehentlichen Gebärden begegnen; ohne Trauer auch hörte ich in der Tiefe des Gartens den letzten Nachhall des Donners in den Fliederbüschen gurren.
    War das Wetter von morgens an schlecht, verzichteten meine Eltern auf den Spaziergang, und auch ich verließ das Haus nicht. Später aber nahm ich die Gewohnheit an, an solchen Tagen allein in Richtung Méséglise-la-Vineuse zu gehen, in jenem Herbst 1 nämlich, als wir nach Combray kommen mußten wegen der Erbschaft meiner Tante Léonie, denn sie war schließlich gestorben und hatte damit gleichzeitig denen einen Triumph bereitet, die die Meinung vertraten, daß ihre entkräftende Lebensweise sie schließlich umbringen werde, und ebenso den anderen, die immer behauptet hatten, sie leide an einer nicht eingebildeten, sondern organischen Krankheit, und wer es nicht glauben wolle, würde es eines Tages noch einsehen müssen, wenn sie ihr schließlich erläge; mit ihrem Tod bereitete sie nur einem einzigen Wesen einen großen Schmerz, bei diesem aber war er auch wirklich hemmungslos. Während der vierzehn Tage, die die letzte Krankheit meiner Tante dauerte, verließ Françoise sie nicht einen Augenblick lang, sie legte ihre Kleider nicht ab, ließ niemand anderen etwas für sie tun und blieb bei der Toten, bis sie begraben war. Da wurde uns denn klar, daß jene Furcht, in der Françoise gelebt hatte, die Furcht vor bösen Worten, vor dem Argwohn, vor dem Zorn meiner Tante, in ihr Gefühle hatte entstehen lassen, die wir für Haß gehalten hatten, die in Wirklichkeit aber solche der Verehrung und der Liebe waren. Die, die wahrhaft ihre Herrin war mit ihrenunvorhersehbaren Entschlüssen, ihren schwer zu vereitelnden Listen, dem leicht beeinflußbaren guten Herzen, ihre Souveränin, ihre geheimnisvoll allmächtige Monarchin, war nicht mehr. Neben ihr galten wir nicht viel. Die Zeit lag weit zurück, da wir, als wir anfingen, unsere Ferien in Combray zu verbringen, in den Augen von Françoise ein ebenso großes Prestige wie meine Tante besaßen. In jenem Herbst nun waren meine Eltern so völlig mit allerlei notwendigen Formalitäten, Gesprächen mit Notaren und Pächtern beschäftigt, daß sie kaum Zeit für Spaziergänge fanden, zu denen das Wetter übrigens auch nicht einlud, und die Gewohnheit annahmen, mich ohne ihre Begleitung, in ein großes Plaid gehüllt, das mich vor Regen schützte und das ich um so lieber umnahm, als ich spürte, daß sein schottisches Muster bei Françoise Anstoß erregte, in der Gegend von Méséglise herumziehen zu lassen. Niemals hätte man Françoise nämlich beibringen können, daß die Farbe der Kleidung nichts mit dem Schmerz, den man empfindet, zu tun hat, und außerdem sagte ihr unsere Art von Trauer über den Tod unserer Tante wenig zu, weil wir kein großes Leichenmahl veranstaltet hatten, nicht mit gedämpfter Stimme von ihr sprachen, und ich sogar zuweilen halblaut vor mich hinsang. Ich bin sicher, daß mir in einem Buch – und darin war ich selbst ganz wie Françoise

Weitere Kostenlose Bücher