Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
– diese Auffassung der Trauer nach Art des Rolandsliedes 1 und des Portals von Saint-André-des-Champs sympathisch gewesen wäre. Sobald aber Françoise leibhaftig in meiner Nähe war, gab mir ein böser Geist den Wunsch ein, sie in Harnisch zu bringen, und so ergriff ich jede Gelegenheit, ihr zu sagen, daß es mir um meine Tante leid tue, weil sie eine gute Frau gewesen sei trotz mancher Lächerlichkeiten, die sie an sich gehabt habe, keineswegs aber weil sie meine Tante war; daß sie ruhig meine Tante und mir recht zuwider hätte seinkönnen und ihr Tod mir dann eben keinen Kummer bereitet hätte, lauter Redensarten, die mir in einem Buch ganz unangebracht erschienen wären.
    Wenn dann Françoise, deren Gemüt wie das eines Dichters von verworrenen Ideen über den Schmerz und über Familienpietät erfüllt war, sich entschuldigte, daß sie auf meine Erörterungen keine Antwort geben könne, und etwa sagte: »Ich verstehe mich nicht auszudrücken«, triumphierte ich über dieses Eingeständnis mit einer rohen, ironischen Nüchternheit, die Doktor Percepieds würdig gewesen wäre; und wenn sie dann hinzusetzte: »Sie ist doch eine von Ihrer Verbandschaft gewesen, es gehört sich doch, daß man Respekt vor der Verbandschaft hat«, so zuckte ich die Achseln und sagte mir: Ich bin wirklich gut, daß ich mich mit dieser ungebildeten Person herumstreite, die nicht einmal richtig sprechen kann, das heißt, ich machte mir für die Beurteilung von Françoise den kleinlichen Gesichtspunkt von Menschen zu eigen, deren Rolle diejenigen, die sie bei nüchterner Überlegung am meisten verachten, in einer der gewöhnlichen Szenen des Lebens sehr wohl selbst manchmal spielen.
    Meine Spaziergänge in jenem Herbst waren um so angenehmer, als ich sie meist nach langen, über Büchern verbrachten Stunden unternahm. Wenn ich den ganzen Morgen in der Stube gelesen hatte und schließlich müde davon war, warf ich mein Plaid um die Schultern und ging ins Freie: mein so lange zur Unbeweglichkeit verurteilter Körper, der im Ruhezustand Bewegungsdrang gespeichert und sich mit Energie aufgeladen hatte, empfand alsdann das Bedürfnis, wie ein Kreisel, der endlich aufgesetzt wird, sie nach allen Seiten zu entfalten. Die Mauern der Häuser, die Hecke von Tansonville, die Bäume des Waldes von Roussainville oder die Büsche, an die Montjouvain sich anlehnt, steckten SchirmoderStockschläge ein, vernahmen Freudenjauchzer, die einen wie die anderen nur verworrene Ideen, deren Überschwang mich bewegte und die nie zur ruhigen Klärung gelangten, weil sie einer langsamen, schwierigen Ermittlung das Vergnügen einer bequemeren Ableitung über einen direkten Abfluß vorzogen. So besteht der angebliche Ausdruck dessen, was wir empfunden haben, meist darin, daß wir es einfach loswerden, indem es in unklarer Form aus uns heraustritt und wir es deshalb nicht erfassen können. Wenn ich annähernd zu überblicken versuche, was ich der Gegend von Méséglise verdanke, die bescheidenen Entdeckungen betrachte, deren zufälliger Rahmen oder unerläßliche Inspirationsquelle sie gewesen ist, so erinnere ich mich, daß ich in jenem Spätjahr, auf einem meiner Spaziergänge, nahe bei dem gestrüppbewachsenen Abhang oberhalb von Montjouvain zum ersten Male betroffen war über das Mißverhältnis zwischen unseren Eindrücken und ihrem landläufigen Ausdruck. Als ich nach einer Stunde fröhlichen Kampfes gegen Regen und Wind an den Teich von Montjouvain kam und vor einer kleinen ziegelgedeckten Hütte stand, in der Vinteuils Gärtner seine Geräte unterbrachte, trat gerade die Sonne wieder hervor, und ihr vom Platzregen gewaschenes Gold strahlte wie neu am Himmel, auf den Bäumen, an der Mauer der Hütte und ihrem noch regennassen Ziegeldach, auf dessen First ein Huhn umherspazierte. Es blies ein Wind, der die wilden Gräser in der Mauerwand waagrecht zur Seite zerrte, nicht anders als die Flaumfedern des Huhns; und mit der Gelöstheit träger, leichter Dinge ließen sich Gräser und Federn vom Wind ihrer ganzen Länge nach dehnen. Das Ziegeldach erschien in dem dank der Sonne von neuem spiegelnden Teich als rosiges Geäder, auf das ich noch niemals achtgegeben hatte. Und als ich im Wasser und auf der Fläche der Mauer ein schwaches Lächelndem Lächeln des Himmels Antwort geben sah, rief ich in meiner Begeisterung, den geschlossenen Regenschirm schwingend, aus: »Verflixt nochmal, verflixt nochmal!« Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, es sei eigentlich meine

Weitere Kostenlose Bücher