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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Pflicht, nicht bei solchen unklaren Worten stehenzubleiben, sondern zu versuchen, meinem Entzükken klaren Ausdruck zu geben. 1
    In dem gleichen Augenblick machte ich auch – dank einem Bauern, der, ohnehin schon etwas mißgelaunt, es vollends wurde, als er an mir vorüberschritt und ich ihm um ein Haar meinen Regenschirm ins Gesicht gebohrt hatte, und der auf meine Bemerkung »Herrliches Wetter, nicht wahr? Heute geht es sich gut« ziemlich kühl antwortete – die Erfahrung, daß nicht bei allen Menschen gleichzeitig nach einer im voraus bestimmten Ordnung die gleichen Gefühle entstehen. Später, wenn langes Lesen die rechte Plauderstimmung in mir aufkommen ließ, hatte oft der Schulgefährte, mit dem ich brennend gern geredet hätte, gerade ausgiebig die Freuden der Unterhaltung genossen und hegte jetzt einzig den Wunsch, ungestört lesen zu können. Wenn ich eben voller Zärtlichkeit an meine Eltern dachte und die besten Vorsätze faßte, die ihnen nur Freude machen konnten, so hatten sie inzwischen die Zeit benutzt, um irgendeiner meiner kleinen Untaten nachzugehen, die ich vergessen hatte, und hielten sie mir gerade in dem Augenblick streng vor, da mich mein Herz zu ihnen zog und ich sie stürmisch umarmen wollte.
    Manchmal verband sich mit der überspannten Freude, die mir die Einsamkeit schenkte, noch eine andere, die ich nicht ganz klar davon zu trennen vermochte und die in mir durch das Verlangen entstand, ein Bauernmädchen auftauchen zu sehen, das ich in meine Arme schließen könnte. Plötzlich aufkommend, ohne daß ich Zeit gefunden hätte, sie mit ihrer Ursache richtig inBeziehung zu setzen, und inmitten von ganz andersartigen Vorstellungen, schien mir die Lust, von der dieses Verlangen begleitet war, nur eine höhere Stufe von der, die jene Vorstellungen mir schenkten. Allem, was in diesem Augenblick meine Sinne erfüllte, dem rosigen Ziegeldach, den wilden Gräsern, dem Dorf Roussainville, wohin ich schon längst einmal wollte, den Bäumen seiner Wälder, dem Glockenturm der Kirche, schrieb ich die neue Regung zu, die sie mir noch erwünschter erscheinen ließ, weil ich glaubte, sie nur brächten die Lust hervor, während diese mich offenbar nur um so rascher ihnen entgegentragen wollte, wenn sie mein Segel mit einer mächtigen, unbekannten, in günstiger Richtung wehenden Brise schwellte. Verlieh dieser Wunsch, eine Frau auftauchen zu sehen, den Reizen der Natur für mich etwas noch Aufregenderes, so lösten die Reize der Natur umgekehrt den Wunsch nach einer Frau aus seiner allzu ausgeprägten Begrenztheit. Es kam mir so vor, als sei auch die Schönheit der Bäume noch die ihre und als werde mir die Seele der Horizonte, des Dorfes Roussainville, der Bücher, die ich in jenem Jahr las, durch ihren Kuß offenbar; und da meine Phantasie im Kontakt mit meinen erwachenden Sinnen neue Beschwingtheit erfuhr und meine Sinnlichkeit alle Bezirke der Phantasie durchströmte, kannte mein Verlangen keine Grenzen mehr. Es war dabei auch so – wie es in Augenblicken der Träumerei inmitten der Natur geschieht, wo die Wirkung der Gewohnheit aufgehoben ist, unsere abstrakten Begriffe aus unserem Bewußtsein verschwinden und wir aufs tiefste von der Einmaligkeit, dem individuellen Dasein des Ortes, an dem wir uns befinden, überzeugt sind –, daß jene Vorübergehende, die mein Verlangen herbeirief, für mich nicht nur ein beliebiges Exemplar der Gattung »Frau« war, sondern ein notwendiges und natürliches Produkt diesesBodens. Denn zu jener Zeit schien mir alles, was nicht ich war, die Erde und die Erdenwesen, kostbarer, wichtiger, mit einer realeren Existenz begabt, als sie der Erwachsene sieht. Erde und Erdenwesen aber trennte ich nicht. Ich sehnte mich nach einem Bauernmädchen von Méséglise oder Roussainville, einer Fischerin aus Balbec, so wie ich mich nach Méséglise oder nach Balbec sehnte. Die Lust, die sie mir geben konnten, wäre mir weniger wahr erschienen, ich hätte nicht daran geglaubt, wenn ich diese Voraussetzungen abgewandelt hätte. In Paris die Bekanntschaft einer Fischerin aus Balbec oder eines Bauernmädchens aus Méséglise zu machen wäre mir so vorgekommen wie Muscheln zu erhalten, die ich nicht selbst am Strand gesehen, oder ein Farnkraut, das nicht ich in den Wäldern gepflückt hatte; es hätte der Lust, die diese Frau mir schenkte, alles das genommen, womit meine Einbildungskraft sie umwob. Doch hier in den Wäldern von Roussainville umherirren und kein Bauernmädchen zum

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