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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Umarmen haben bedeutete, daß ich den verborgenen Schatz, die innewohnende Schönheit dieser Wälder nicht kannte. Das Mädchen, das ich immer im Lichtspiel des Laubwerks vor mir sah, war für mich selbst nur ein Gewächs der Gegend, freilich von höherer Art als die andern und ihrer Natur nach so beschaffen, daß man durch sie der auf dem Grund verborgenen Essenz des Landes näherkommen kann als durch jene. Ich konnte das um so leichter glauben (und auch, daß ihre Zärtlichkeiten, durch die ich dorthin zu gelangen vermöchte, von ganz besonderer Art sein würden, wie ich sie durch eine andere nicht kennenlernen könnte), als ich noch auf lange Zeit hinaus in dem Alter war, wo man die Lust noch nicht von dem Besitz der verschiedenen Frauen, mit denen man sie gekostet hat, abstrahiert, sie noch nicht auf eine Allgemeinvorstellung zurückgeführt hat, aufgrund deren man jene nurals auswechselbare Instrumente der gleichen Wonnen betrachtet; ja, diese Lust besteht in jener Zeit noch nicht einmal deutlich gesondert, herausgelöst und im Geiste formuliert, als der Zweck an sich, den man bei der Annäherung an eine Frau verfolgt, und als die Ursache jener Beunruhigung, die man vorher verspürt. Man denkt noch kaum an sie als an ein Vergnügen, das man haben wird; man sieht in ihr vielmehr einen dieser bestimmten Frau innewohnenden Reiz, denn man denkt noch nicht an sich selbst, man will vielmehr aus sich heraus. Dumpf erwartet, immanent, von anderem überlagert, bringt sie nur in dem Augenblick ihrer Erfüllung alle anderen Freuden, die sanften Blicke, die Küsse derjenigen, die uns nahe ist, zu einer so rauschhaften Höhe, daß sie uns selber vorkommt wie ein überschwenglicher Dank für die Herzensgüte unserer Gefährtin, für ihre rührende Neigung zu uns, die wir an den Wohltaten, am Glück messen, mit denen sie uns beschenkt.
    Ach, vergebens flehte ich den Turm von Roussainville an, mir irgendein Kind des Dorfes entgegenzuschicken; er war der einzige Vertraute meiner Wünsche, wenn ich oben in unserem Haus in Combray in dem nach Iriswurzel riechenden kleinen Gemach nichts als ihn in der quadratischen Öffnung des halbgeöffneten Fensters stehen sah, während ich mit dem heroischen Zaudern eines Reisenden, der eine Forschungsreise unternimmt, oder des Verzweifelten, der sich umbringen will, mit versagender Kraft in mir selbst einen unbekannten und, wie mir schien, von Todesgefahr umlauerten Weg suchte, bis zu dem Augenblick, da eine natürliche Spur wie die einer Schnecke auf den Blättern des wilden schwarzen Johannisbeerstrauches entstand, der sich bis zu mir neigte. 1 Vergebens flehte ich ihn jetzt an. Vergebens durchspähte ich die ganze Weite der Ebene in meinem Gesichtsfeld und versuchte mit den Blicken eine Frau aus ihrhervorzuzaubern. Ich ging sogar bis zu dem Portal von Saint-André-des-Champs; nie fand ich dort das Bauernmädchen, das ich ganz sicher angetroffen hätte, wenn ich mit meinem Großvater erschienen wäre und unmöglich mit ihr eine Unterhaltung hätte anknüpfen können. Unendlich lange starrte ich auf den Stamm eines fernen Baums, hinter dem sie hervortreten und auf mich zukommen sollte; der Horizont, den ich absuchte, lag auch weiterhin öde da, die Nacht sank hernieder, ohne Hoffnung heftete ich meine Aufmerksamkeit, als könne sie verborgene Geschöpfe aus ihm ziehen, auf diesen unfruchtbaren Boden, auf dieses erschöpfte Land; nicht mehr aus Freude, sondern aus Wut drosch ich jetzt auf die Bäume von Roussainville ein, zwischen denen ebensowenig lebende Wesen hervortraten als zwischen den auf Leinwand gemalten Bäumen einer Panoramaschau, wenn ich, obwohl ich eigentlich nicht hatte heimgehen wollen, ohne die so sehr ersehnte Frau in den Armen gehalten zu haben, dennoch schließlich den Weg nach Combray einschlagen und mir gestehen mußte, daß es immer unwahrscheinlicher wurde, durch Zufall auf sie zu stoßen. Und wäre sie wirklich erschienen, hätte ich denn gewagt, sie überhaupt anzusprechen? Sie hätte mich bestimmt für einen Irren gehalten; ich hörte auf, die Wünsche, die in mir während jener Streifzüge entstanden und nicht in Erfüllung gingen, als etwas anzusehen, was andere Wesen teilten und was an sich und unabhängig von mir einer Wahrheit entspreche. Sie kamen mir nur mehr wie rein persönliche, ohnmächtige, trügerische Schöpfungen meines Gefühlslebens vor. Sie hatten keine Verbindung mehr mit der Natur und mit der Wirklichkeit, die von da an jeden Reiz und jede

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