Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Bedeutung verlor und meinem Leben nur noch einen herkömmlichen Rahmen bot, wie für einen Roman der Eisenbahnwagen, in dem der Reisende ihn liest, um die Zeit totzuschlagen.
Aus einem ebenfalls in der Nähe von Montjouvain einige Jahre später erhaltenen Eindruck, der damals freilich ungeklärt blieb, ist vielleicht lange danach die Vorstellung hervorgegangen, die ich mir vom Sadismus machte. 1 Später wird man sehen, daß aus ganz anderen Gründen die Erinnerung an diesen Eindruck in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Es war ein sehr heißer Tag; meine Eltern, die auf kurze Zeit verreisen mußten, hatten mir erlaubt, so spät ich wollte nach Hause zu kommen; so war ich bis zum Teich von Montjouvain vorgedrungen, auf dem ich so gern den Widerschein des Ziegeldachs sah, hatte mich im Schatten ausgestreckt und war in den Büschen der Anhöhe eingeschlafen, die etwas über dem Haus lag, dort, wo ich meinen Vater damals erwartet hatte, als er Vinteuil besuchte. Es war fast dunkel, als ich erwachte, ich wollte mich erheben, aber da sah ich Mademoiselle Vinteuil (soweit ich sie wiedererkennen konnte, denn ich hatte sie nicht oft in Combray gesehen und nur als Kind, während sie jetzt bereits ein junges Mädchen schien), die wahrscheinlich gerade nach Hause gekommen war; ich sah sie mir gegenüber, nur wenige Zentimeter von mir entfernt, in jenem Zimmer, in dem ihr Vater damals den meinen empfangen und das sie zu ihrem eigenen kleinen Salon gemacht hatte. Das Fenster stand halb offen, die Lampe war angezündet, ich sah alle ihre Bewegungen, ohne daß sie mich sah; wäre ich aber jetzt gegangen, so hätten die Zweige geknackt, sie hätte mich gehört und hätte meinen können, ich hätte mich dort versteckt, um sie auszuspähen.
Sie war in tiefer Trauer, denn ihr Vater war erst vor kurzem gestorben. Wir hatten ihr keinen Besuch gemacht, meine Mutter hatte es nicht gewollt im Namen einer Tugend, die einzig imstande war, bei ihr die Güte einzuschränken, nämlich des Gefühls für Sitte undAnstand; doch bedauerte sie das junge Mädchen sehr. Meine Mutter mußte an das traurige Lebensende von Monsieur Vinteuil denken, das erst ganz von den Sorgen einer Mutter und Kinderfrau für seine Tochter in Anspruch genommen war, dann von dem Kummer, den diese ihm bereitet hatte; sie sah wieder das gequälte Gesicht des alten Mannes in seiner letzten Zeit vor sich; sie wußte, daß er es endgültig aufgegeben hatte, jemals sein musikalisches Œuvre der letzten Jahre ins reine zu schreiben, jene armseligen Stücke eines alten Klavierlehrers, eines früheren Dorforganisten, die wir uns an sich als ziemlich belanglos vorstellten, aber doch nicht verachteten, weil sie soviel für ihn bedeutet hatten, ja der Zweck seines Lebens gewesen waren, bevor er es ganz seiner Tochter widmete; zum größten Teil waren sie nicht einmal aufgezeichnet, sondern nur in seinem Gedächtnis eingeschrieben geblieben, nur einzelne davon hatte er auf verstreute Blätter unleserlich hingekritzelt, so daß sie sicherlich alle unbekannt bleiben würden; meine Mutter dachte auch an jenen anderen, noch grausameren Verzicht, zu dem Monsieur Vinteuil gezwungen worden war, den Verzicht auf eine Zukunft ehrenhaften und geachteten Glücks für seine Tochter; wenn sie sich diese ganze letzte Leidenszeit des ehemaligen Klavierlehrers meiner Tanten vor Augen führte, so empfand sie wirklichen Kummer und dachte mit Grauen an jenen noch bittereren, den Mademoiselle Vinteuil sicherlich empfand, da er ja bei ihr noch mit Gewissensbissen darüber gemischt sein mußte, daß sie so viel zum Tod ihres Vaters beigetragen hatte. »Der arme Monsieur Vinteuil«, sagte meine Mutter, »er hat für seine Tochter gelebt und ist ihretwegen gestorben, und niemand hat es ihm gedankt. Wird er je nach seinem Tod den Lohn dafür erhalten und in welcher Form? Es könnte ja doch einzig von ihrer Seite sein.«
Im Hintergrund von Mademoiselle Vinteuils Salon stand auf dem Kamin ein kleines Bild ihres Vaters; in einer plötzlichen Regung erhob sie sich und holte es herbei, gerade in dem Augenblick, als man von der Landstraße her das Rollen eines Wagens vernahm; dann warf sie sich auf das Sofa, zog einen kleinen Tisch an sich heran und stellte das Bild darauf, ähnlich wie Vinteuil es damals mit dem Musikstück machte, das er so gern meinen Eltern vorgespielt hätte. Gleich darauf trat ihre Freundin ein. Mademoiselle Vinteuil begrüßte sie, ohne sich zu erheben, mit hinter dem Kopf
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