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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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verschränkten Händen und rückte dicht an den Rand des Sofas heran, als ob sie ihr Platz machen wolle. Doch gleich darauf hatte sie offenbar das Gefühl, sie könne ihr damit eine Haltung aufzwingen, die jener möglicherweise unbequem war. Sie dachte, ihre Freundin würde vielleicht lieber in einer gewissen Entfernung von ihr auf einem Stuhl sitzen, und fand sich unbescheiden, das Zartgefühl ihres Herzens regte sich; so nahm sie gleich darauf wieder das ganze Sofa ein, schloß die Augen und gähnte, um anzudeuten, daß sie nur aus Müdigkeit sich hier hingelegt habe. Trotz ihrer rauhen und gebieterischen Vertraulichkeit im Umgang mit ihrer Freundin erkannte ich doch die umständlichen und gehemmten Gebärden, die plötzlichen Bedenken ihres Vaters wieder. Kurz darauf stand sie auf und tat so, als wollte sie die Fensterläden schließen, käme aber damit nicht zurecht.
    »Laß doch alles offen, mir ist so warm«, bemerkte ihre Freundin.
    »Aber es ist lästig, man könnte uns sehen«, gab Vinteuils Tochter zurück.
    Doch sie erriet offenbar, daß ihre Freundin dachte, sie habe diese Worte nur gesagt, um gewisse andere damit zu provozieren, die sie in der Tat gern gehört hätte, die auszusprechen sie aber doch aus Taktgefühl derInitiative der Freundin überlassen wollte. Sicher nahm dabei ihr Blick, den ich nicht sehen konnte, jenen Ausdruck an, der meiner Großmutter immer so gut gefallen hatte, als sie rasch hinzusetzte:
    »Mit ›sehen‹ meine ich, man kann uns lesen sehen; es ist doch ein dummes Gefühl, wenn man nichts tun kann, ohne daß man sich von fremden Augen beobachtet fühlt.«
    Aus instinktiver Großherzigkeit und unwillkürlicher Höflichkeit sprach sie die Worte nicht aus, die sie sich vorher zurechtgelegt und für die Erfüllung ihrer Wünsche als unerläßlich angesehen hatte. In jedem Augenblick lag in ihr eine schüchterne, demütig bittende Jungfrau mit einem derben, rohen Draufgänger im Kampf und wußte ihn schließlich durch ihr Flehen zu bändigen.
    »Ja, es ist wirklich höchst wahrscheinlich, daß jemand uns um diese Zeit zusieht hier in dieser belebten Gegend«, gab ihre Freundin ironisch zurück. »Und wenn auch?« fügte sie hinzu (und hielt es für nötig, mit einem übermütig-zärtlichen Augenzwinkern die Worte zu begleiten, die sie aus Freundlichkeit wie einen Text heruntersagte, der Mademoiselle Vinteuil angenehm sein mußte, jedoch in möglichst zynischem Ton). »Und wenn man uns auch sehen würde! Dann um so besser!«
    Mademoiselle Vinteuil zuckte zusammen und stand auf. Ihr von Skrupeln gepeinigtes, empfindliches Herz wußte nicht, welche Worte jetzt genau zu der Szene gepaßt hätten, die ihre Sinne sich wünschten. Sie suchte möglichst weit entfernt von ihrer wahren seelischen Natur den angemessenen Ton für das lasterhafte Geschöpf zu finden, das sie so gern vorstellen wollte, doch die Worte, von denen sie glaubte, daß jenes sie gebraucht haben würde, klangen ihr in ihrem eigenen Mund falsch.Das wenige, was sie sich zu sagen erlaubte, brachte sie in einem gezwungenen Ton hervor, in dem ihre gewohnte Schüchternheit den Anflug von Kühnheit in ihr lähmte und immer wieder Wendungen einstreute wie: »Es ist dir doch auch nicht zu kalt, oder zu heiß, möchtest du lieber allein sein und lesen?«
    »Die Dame scheint heute abend auf Vergnügungen aus zu sein«, bemerkte sie schließlich und wiederholte damit zweifellos einen Satz, den sie vorher einmal aus dem Mund ihrer Freundin vernommen hatte.
    Sie spürte, wie ihre Freundin ihr einen Kuß auf den Ausschnitt ihrer Crêpebluse drückte, stieß einen kurzen Schrei aus, lief davon, und nun verfolgten sie einander, schlugen flatternd mit den weiten Ärmeln und glucksten und zwitscherten dabei wie verliebte Vögel. Dann warf sich Mademoiselle Vinteuil auf das Sofa, und ihre Freundin sank über sie hin. Diese aber wandte dem kleinen Tisch, auf dem das Bild des ehemaligen Klavierlehrers stand, den Rücken zu. Mademoiselle Vinteuil war sich klar darüber, daß ihre Freundin es nicht bemerken würde, wenn nicht sie selbst ihre Aufmerksamkeit darauf lenkte, und so sagte sie, als sähe sie es erst jetzt:
    »Da schau! das Bild meines Vaters sieht uns zu, ich weiß gar nicht, wer es dahingestellt hat, ich habe schon zwanzigmal gesagt, daß es da nicht stehen soll.«
    Ich erinnerte mich, daß dies die Worte waren, die Vinteuil zu meinem Vater im Hinblick auf das Musikstück gesagt hatte. Dies Bild diente ihnen vermutlich immer wieder

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