Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
bei ihren Profanationsriten, denn ihre Freundin antwortete ihr mit Worten, die wohl ein fester Bestandteil dieser liturgischen Responsorien waren:
»Laß es doch stehen, er selbst kann uns ja nicht mehr anöden. Was meinst du, wie er winseln und dir deinen Mantel umlegen würde, wenn er dich hier am offenen Fenster sehen könnte, der alte Affe.«
Mademoiselle Vinteuil antwortete mit leisem Vorwurf: »Aber hör mal!« Es lag etwas von der ursprünglichen Gutartigkeit ihrer Natur darin, nicht als hätte ihr Empörung über eine solche Art, von ihrem Vater zu sprechen, diese Worte diktiert (offenbar hatte sie sich mit wer weiß welchem Sophismus daran gewöhnt, in solchen Augenblicken dieses Gefühl in sich zum Schweigen zu bringen), sondern sie benutzte sie, um nicht egoistisch zu scheinen, als eine Art Aufschub des Vergnügens, das ihre Freundin ihr verschaffen wollte. Außerdem mochte dieser lächelnde Verweis als Antwort auf eine derartige Lästerung, diese heuchlerische, zärtliche Vorhaltung ihrer freimütigen und guten Natur ganz besonders lasterhaft vorkommen als eine widerwärtig süßliche Form jener Verruchtheit, die sie sich so gern zulegen wollte. Doch sie konnte der Lockung der Lust nicht widerstehen, daß eine gegen einen wehrlosen Toten so unerbittlich strenge Person ihr Zärtlichkeiten erwies; sie sprang ihrer Freundin auf die Knie und bot keusch ihre Stirn deren Küssen dar, wie sie es als ihre Tochter hätte tun können, und war sich mit Entzücken bewußt, daß sie beide die Grausamkeit bis zum Äußersten trieben, indem sie Vinteuil noch bis ins Grab hinein seine Vaterschaft streitig machten. Die Freundin nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn mit einem Entgegenkommen, das ihr durch ihre große Zuneigung zu Mademoiselle Vinteuil sowie auch durch den Wunsch, in das jetzt so traurige Leben der armen Verwaisten etwas Zerstreuung zu bringen, leicht gemacht wurde.
»Weißt du, was ich am liebsten mit diesem alten Ekel anstellen würde?« sagte sie und nahm die Photographie.
Und sie flüsterte Mademoiselle Vinteuil etwas ins Ohr, was ich nicht verstehen konnte.
»Oh! Das würdest du niemals wagen.«
»Was? Ich würde nicht wagen, darauf zu spucken? Auf das hier?« rief die Freundin mit gespielter Roheit aus.
Das Weitere hörte ich nicht, denn mit einer müden, hilflosen, geschäftigen, redlich bemühten und traurigen Miene schloß Mademoiselle Vinteuil die Fensterläden, ich aber wußte jetzt, was Vinteuil, nach all den Leiden, die er im Leben wegen seiner Tochter erduldet hatte, nach seinem Tod von ihr als Belohnung erhielt.
Und dennoch bin ich seither zur Ansicht gekommen, daß Vinteuil, wäre er Zeuge dieser Szene gewesen, vielleicht doch nicht ganz das Vertrauen in das gute Herz seiner Tochter verloren und schließlich noch nicht einmal unrecht damit gehabt hätte. Gewiß, in den Gewohnheiten von Mademoiselle Vinteuil war der Augenschein des Bösen so unbestreitbar vorhanden, daß es schwer gewesen wäre, ihn in solcher Vollendung anderswo als bei einer Sadistin anzutreffen; eher im Rampenlicht eines Boulevardtheaters als unter der Lampe eines wirklichen Landhauses begegnet man einer Tochter, die das Bild ihres Vaters, der nur für sie gelebt hat, von einer Freundin anspucken läßt; und tatsächlich ist ja der Sadismus ungefähr das einzige im Leben, was der Ästhetik des Melodramas als Vorlage dienen kann. 1 In der Wirklichkeit, außerhalb der Sphäre des eigentlichen Sadismus, würde sich zwar vielleicht auch eine Tochter so grausam gegen das Gedächtnis und Vermächtnis ihres verstorbenen Vaters vergehen können wie Mademoiselle Vinteuil, sie würde aber diese Nichtachtung nicht so ausdrücklich in einem Akt von primitivstem Symbolismus manifestieren; die kriminelle Seite ihres Verhaltens würde vor den Augen anderer und sogar vor ihren eigenen verborgen bleiben, denn sie würde das Böse tun, ohne es auch nur sich selber einzugestehen. Doch entgegen dem Augenschein bestand das Böse inMademoiselle Vinteuils Herzen wenigstens zu Anfang wohl nicht ungemischt. Eine Sadistin wie sie ist eine Künstlerin des Bösen, was eine von Grund auf schlechte Natur gar nicht sein könnte, denn das Böse wäre für sie in diesem Falle nichts Äußerliches, es läge in ihr selbst und wäre untrennbar von ihr; die Tugend aber, das Gedächtnis der Toten, die kindliche Pietät wären für sie, da sie ihr niemals heilig gewesen wären, in ihrer Profanation keine Quelle
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