Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
herzuleiten schienen; jetzt würde man sie in Combray vergebens suchen, denn da, wo sie sich früher erstreckte, erhebt sich heute die Schule. Doch in meinen Gedanken lasse ich (ähnlich wie die Architekten aus der Schule von Viollet-le-Duc 1 , die unter einem Renaissancelettner und einem Altar aus dem siebzehnten Jahrhundert die Spuren eines romanischen Chores finden und daraufhin das ganze Bauwerk in den Zustand zurückversetzen, in dem es im zwölften Jahrhundert gewesen sein mag) keinen Stein des neuen Gebäudes stehen, sondern lege wieder die Rue des Perchamps durch das Grundstück hindurch und »stelle den ursprünglichen Zustand her«. Ich besitze übrigens für meine rekonstruierende Tätigkeit präzisere Unterlagen,als sie den Restauratoren im allgemeinen zur Verfügung stehen: ein paar im Gedächtnis aufbewahrte Bilder – die letzten vielleicht, die heute noch existieren, und auch diese schon zu baldigem Untergang bestimmt – von dem, was Combray zur Zeit meiner Kindheit war; und da der Ort selbst sie noch in mich eingezeichnet hat, bevor jene Stätten verschwanden, haben sie – wenn man eine bescheidene Ansicht mit den großartigen Gemälden vergleichen kann, von denen meine Großmutter mir so gern Reproduktionen schenkte – etwas ebenso Bewegendes wie jene alten Stiche nach dem Abendmahl oder das Bild von Gentile Bellini, auf denen man in einem Zustand, der heute nicht mehr vorhanden ist, das Meisterwerk Leonardos oder das Portal der Markuskirche sieht. 1
In der Rue de l’Oiseau kamen wir an der alten Herberge zum »Oiseau Flesché« vorbei, in dessen geräumigen Hof im 17. Jahrhundert gelegentlich die Karossen der Herzoginnen von Montpensier, von Guermantes 2 und Montmorency einfuhren, wenn irgendwelche Streitigkeiten mit Pächtern oder Pflichten der Repräsentation sie nach Combray führten. Wir gelangten auf den Wall, zwischen dessen Bäumen der Glockenturm von Saint-Hilaire sich zeigte. Dort hätte ich mich hinsetzen, den ganzen Tag lesen und den Glocken lauschen mögen; denn es war dort so schön und so still, daß der Stundenschlag nicht eigentlich die Stille des Tages durchbrach, sie vielmehr von all ihrem Inhalt befreite und daß der Glockenturm nur mit der lässigen und gepflegten Pünktlichkeit einer Person, die nichts weiter zu tun hat, im richtigen Augenblick aus der Fülle des Schweigens die paar goldenen Tropfen preßte und niederfallen ließ, die die Hitze dort langsam und dem Lauf der Natur gemäß hatte anwachsen lassen.
Der größte Reiz der Gegend von Guermantes bestanddarin, daß man dort fast die ganze Zeit vom Lauf der Vivonne begleitet war. Wir überquerten sie ein erstes Mal, zehn Minuten nachdem wir das Haus verlassen hatten, vermittelst eines Stegs, der »Pont-Vieux« hieß. Gleich an dem unserer Ankunft folgenden Tag, am Ostermorgen, nach der Predigt lief ich, wenn schönes Wetter war, um in der gelockerten Ordnung eines großen Festtages, an dem, gemessen an den großartigen Vorbereitungen, ein paar noch herumliegende Haushaltsgegenstände um so werktäglicher erschienen, den Fluß anzuschauen, der schon in reinstem Himmelsblau die noch schwarzen und kahlen Fluren durchzog, begleitet nur von einer Schar vorzeitiger Kuckucksblumen und verfrühter Primeln, während hier und da ein Veilchen mit blauem Schnabel seinen Stengel unter der Last eines Dufttropfens niedersinken ließ, der an seinem Sporn hing. Der Pont-Vieux mündete auf einen Treidelweg, an dem sich im Sommer an dieser Stelle das blaue Blätterwerk eines Haselstrauchs gleich einem Wandteppich ausbreitete; darunter schien ein Fischer mit Strohhut Wurzel geschlagen zu haben. In Combray, wo ich genau wußte, welches Hufschmieds oder Krämerjungens Individualität sich unter der Robe des Kirchenschweizers oder dem Hemd des Chorknaben verbarg, blieb dieser Fischer die einzige Person, deren Identität ich niemals aufdeckte. Er kannte offenbar meine Eltern, denn er lüftete den Hut, wenn wir vorübergingen; ich wollte jedesmal nach seinem Namen fragen, wurde dann aber verwiesen, ich solle doch still sein und den Fisch nicht verscheuchen. Wir schlugen den Treidelweg ein, der in einer Böschung mehrere Fuß hoch über dem Wasser verlief; die andere Seite des Flusses war eine einzige weite Wiesenniederung, die bis zum Dorf reichte und zum Bahnhof, der etwas entfernt davon lag. Sie war mit halb im Gras versunkenen Resten des Schlosses derehemaligen Grafen von Combray übersät, die im Mittelalter auf dieser Seite den Lauf
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