Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
blasphemischer Lust. Sadisten vom Schlage der Mademoiselle Vinteuil sind auf so ausschließliche Weise empfindsame, von Natur aus tugendhafte Wesen, daß sie selbst die Sinneslust als etwas Schlechtes ansehen, als Vorrecht des Bösen. Wenn sie sich dann selbst erlauben, für Momente sich ihr auszuliefern, versuchen sie, in die Haut des Bösen zu schlüpfen, und erwarten das gleiche auch von ihrem Gefährten im Genuß, so daß sie kurze Zeit hindurch die Illusion hatten, sie wären ihrer gewissenhaften, zärtlichen Seele in die unmenschliche Welt der Lust entronnen. Wie sehr sie es sich wünschte, begriff ich, als ich sah, wie wenig es ihr gelang. In dem Augenblick, als sie so ganz anders sein wollte als ihr Vater, erinnerte sie mich an die Denk- und Redeweise des alten Klavierlehrers. Was sie profanierte, was sie ihren Lüsten dienstbar machte, was jedoch gleichzeitig zwischen ihr und den ersehnten Freuden stand und sie daran hinderte, sie unmittelbar zu genießen, das waren – weit mehr als die Photographie des Vaters – die Ähnlichkeit ihrer Züge mit den seinen, die blauen Augen seiner Mutter, die er ihr wie einen Familienschmuck weitervererbt hatte, jene liebenswürdige Haltung, die zwischen Mademoiselle Vinteuils Laster und sie selbst eine Ausdrucks- und Verhaltensweise schob, die nicht dazu paßte und sie um die Möglichkeit brachte, es als etwas zu erfahren, das völlig verschieden ist von den vielfältigen Verpflichtungen derHöflichkeit, denen sie sich gewohnheitsmäßig überließ. Nicht das Böse gab ihr die Vorstellung von der Lust oder schien ihr angenehm; die Lust vielmehr kam ihr böse vor. Und da sie ihr jedesmal, wenn sie sich ihr hingab, von schlechten Gedanken begleitet erschien, die ihrer tugendhaften Seele sonst fremd waren, fand sie schließlich an der Lust etwas Teuflisches und identifizierte sie mit dem Bösen. Vielleicht war Mademoiselle Vinteuil sich bewußt, daß ihre Freundin nicht von Grund auf böse und daß sie selbst in dem Moment nicht aufrichtig war, da sie ihre lästerlichen Reden führte. Auf alle Fälle hatte sie das Vergnügen, auf ihrem Gesicht ein Lächeln, einen Blick mit ihren Küssen zu bedecken, die, wenn auch vielleicht nur trügerischerweise, dem verderbten, niederen Ausdruck ähnlich waren, den nicht ein für Güte und Leiden zugängliches, sondern ein von Laster und Lust geprägtes Wesen zur Schau getragen hätte. Sie konnte sich einen Augenblick lang einbilden, sie spiele wirklich das Spiel, dem mit einer ganz und gar entarteten Gefährtin eine Tochter sich hingeben würde, die tatsächlich das Andenken ihres Vaters so roh geschändet hätte. Vielleicht hätte sie das Böse nicht für einen so außergewöhnlichen, seltenen, entfremdenden Zustand, dem zu entrinnen so erholsam ist, gehalten, wenn sie in sich selbst die auch in allen anderen Menschen vorhandene Gleichgültigkeit gegen Leiden, die man schafft, erkannt hätte; jene Gleichgültigkeit, ie, welche Namen man ihr auch geben mag, die schreckliche, konstante Erscheinungsform der Grausamkeit ist. 1
In Richtung Méséglise zu gehen war verhältnismäßig einfach; ein ganz anderes Unterfangen stellte dagegen ein Ausflug in Richtung Guermantes dar, denn der Weg war weit, und man wollte sicher sein, daß das Wetter sich hielt. Wenn eine Reihe schöner Tage anzubrechenschien, wenn Françoise schon verzweifelte, daß kein Tropfen Regen für »die arme Ernte« herunterkam, und beim Anblick der spärlichen weißen Wolken, die auf der gleichmäßig blauen Himmelsfläche umherschwammen, seufzend ausrief: »Das sieht doch wahrhaftig aus, als ob da oben nur ein paar Seehunde spielen und ihre Schnauzen herausstrecken. Ach! Daran denkt kein Mensch, daß die armen Landleute Regen brauchen! Wenn aber das Korn hoch steht, wird es natürlich nur so schütten und nicht aufhören wollen und gar nicht wissen, wohin es noch fallen soll, als ginge alles einfach ins Meer«, und wenn dann mein Vater durchwegs dieselben günstigen Auskünfte von Gärnter und Barometer erhielt, hieß es beim Abendessen: »Wenn es morgen so bleibt, gehen wir in Richtung Guermantes.« Wir brachen dann gleich nach dem Mittagessen durch die kleine Gartenpforte auf und gingen durch die enge Rue des Perchamps, die einen spitzen Winkel bildete und mit Gräsern bestanden war, zwischen denen zwei oder drei Wespen den Tag mit Botanisieren verbrachten; sie war so eigenartig wie ihr Name, aus dem ihre kuriose Beschaffenheit und rauhe Individualität sich
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