Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
auch meine Tante Léonie rechnete –, die uns durch Jahre hindurch immer das gleiche Schauspiel ihrer bizarren Gewohnheiten gewähren, von denen sie stets annehmen, daß sie sie in kürzester Zeit wieder aufgeben werden, und die sie stets beibehalten; einmal vom Räderwerk ihres Mißbehagens und ihrer Schrullen erfaßt, machen sie unnütze Anstrengungen, um sie abzulegen, und sichern dadurch nur um so zuverlässiger das Funktionieren, das Auslösungssystem ihrer seltsamen, unausweichlichen und verderblichen Lebensweise. So war diese Seerose, die zugleich auch noch an jene Unglücklichen erinnerte, durch deren unaufhörlich in alle Ewigkeit sich erneuernde Qual die Neugier Dantes erregt wurde, der sich ihre Eigenart und die Gründe dafür noch ausführlicher von dem Gepeinigten selbst hätte erzählen lassen, wenn ihn nicht der mächtig ausschreitende Vergil gezwungen hätte, ihm schleunigst nachzueilen, so wie es mir mit meinen Eltern erging.
Etwas weiter fort verlangsamt sich der Wasserlauf; er durchquert dort einen Besitz, der für das Publikumgeöffnet war dank dem Eigentümer, der sich mit Wasserpflanzenkulturen beschäftigte und in den kleinen Teichen, die die Vivonne hier bildete, wahre Seerosengärten angelegt hatte. 1 Da die Ufer hier sehr waldig waren, gaben die tiefen Schatten der Bäume dem Wasser einen gewöhnlich tiefgrünen Untergrund, nur manchmal, wenn wir in den wieder heiteren Abendstunden nach einem gewittrigen Nachmittag heimkehrten, habe ich ihn in einem hellen, harten, ins Violette spielenden Blau gesehen, das aussah wie Cloisonné und ganz japanisch anmutete. Hier und da rötete sich erdbeerengleich auf der Oberfläche eine Seerosenblüte mit scharlachrotem Herzen und weißer Umrandung. Dann kamen andere Blüten, dichter beieinander, die bleicher, weniger glatt, körniger, faltiger und vom Zufall in so anmutigen Gewinden angeordnet waren, daß man gelöste Moosrosengirlanden im melancholischen Zerflattern nach einer Fête galante glaubte dahinschwimmen zu sehen. An einer anderen Stelle schien eine Ecke für landläufigere Arten ausgespart zu sein, die das saubere Weiß und Rosa von Nachtviolen hatten, frisch gewaschen wie mit hausfraulicher Sorgfalt behandeltes Porzellan, während noch etwas weiter fort, wo sie dicht aneinandergedrängt wie in einer schimmernden Rabatte erblühten, man sie für Stiefmütterchen hätte halten können, die wie Schmetterlinge aus den Gärten hierhergeflattert waren, um ihre bläulichen Flügel auf die durchsichtige Neigung dieses Wasserbeetes zu setzen; auch ein Himmelbeet war es, denn es gab den Blumen einen Untergrund von erlesenerer und eindrucksvollerer Färbung, als die der Blumen selbst es war; und ob es nun am Nachmittag unter den Seerosen das Kaleidoskop eines lebendig wachen, schweigenden und beweglichen Glücks aufschimmern ließ, oder ob es sich zum Abend hin wie ein ferner Hafen mit dem Rosenrot und der Verträumtheit desSonnenuntergangs füllte, wobei es sich unaufhörlich veränderte und rings um die mit beständigeren Farben getönten Blumenkronen herum stets mit allem in Einklang zu bleiben suchte, was an Tiefstem, an Flüchtigstem, an Geheimnisvollstem – was an Unendlichem – in der Tagesstunde liegt, man glaubte, sie erblühten im Himmel.
Beim Verlassen des Parks gewinnt die Vivonne ihre Strömung zurück. Wie oft habe ich dann einen Ruderer gesehen – wie oft mir gewünscht, sobald ich einmal ganz nach meiner Neigung leben könnte, es ihm nachzutun –, der mit eingelegten Riemen und zurückgelegtem Kopf flach auf dem Rücken liegend den Nachen treiben ließ, nichts sah als den Himmel, der langsam über ihn dahinzog, und auf seinem Antlitz einen Vorgeschmack des Glücks, des Friedens trug.
Zwischen den Schwertlilien am Uferrand ließen wir uns nieder. Im feiertäglichen Himmel glitt langsam eine müßige Wolke dahin. Von Langeweile bedrückt, hob sich von Zeit zu Zeit ein gierig nach Luft schnappender Karpfen aus dem Wasser. Es war Vesperzeit. Bevor wir weitergingen, aßen wir Obst, Brot und Schokolade und verweilten lange hier im Gras, wo flach vom Horizont her, abgeschwächt zwar, doch immer noch dicht und metallisch, Klänge der Glocke von Saint-Hilaire zu uns gelangten, die sich in der schon seit so langem durchmessenen Luft nicht aufgelöst hatten und nun im gerippten Muster, im fortwährenden Erbeben all ihrer tönenden Linien vibrierend über die Blumen zu unseren Füßen strichen.
Manchmal stießen wir am Ufer des von Wäldern
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