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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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der Vivonne zur Verteidigung gegen die Herren von Guermantes und die Äbte von Martinville nutzten. Jetzt waren nur noch kaum sichtbare Trümmer von Türmen übrig, über die die Wiese sich wölbte, und einige wenige Zinnen, von denen einst der Armbrustschütze Steine schleuderte und der Türmer Novepont, Clairefontaine, Martinville-le-Sec und Bailleau-l’Exempt überwachte, alles Ortschaften, die zur Herrschaft Guermantes gehört hatten und zwischen denen Combray als Enklave lag; heute war alles dem Erdboden gleich, und es herrschten dort die Kinder, die bei den Brüdern zur Schule gingen und hierherkamen, um ihre Lektionen zu lernen oder in den Pausen zu spielen – alles gehörte einer Vergangenheit an, die fast in die Erde zurückgesunken war, die sich am Ufer des Flusses hingelegt hatte wie ein Spaziergänger, der die Kühle genießt, doch sie beschäftigte mich noch sehr, da ich mir zum Namen der kleinen Stadt Combray von heute eine ganz andere stattliche Gemarkung hinzudachte, die meine Phantasie durch ihr ganz unbegreifliches Gesicht von ehemals fesselte, das sie heute fast ganz unter den Butterblumen vergrub. Sie waren sehr zahlreich an dieser Stelle, die sie für ihre Rasenspiele ausgewählt hatten, allein, zu zweien, in Gruppen, eidottergelb und um so strahlender, schien mir, als ich das Vergnügen, das ich bei ihrem Anblick empfand, nicht zu einer Anwandlung von Eßlust hin umleiten konnte, sondern einzig auf ihre goldene Oberfläche konzentrieren mußte, bis es schließlich zu etwas wie zweckloser Schönheit wurde; dieses Gefühl hatte ich schon in meiner frühesten Kindheit gehabt, wenn ich vom Weg aus die Arme nach ihnen ausstreckte, bevor ich noch ihren hübschen Namen »Bouton-d’Or« buchstabieren konnte, der wie der eines Prinzen aus einemfranzösischen Märchen klingt; vielleicht waren sie vor Jahrhunderten schon aus Asien zu uns gekommen, hatten sich aber dann für immer, zufrieden mit dem bescheidenen Horizont, im Dorfe heimisch gemacht, genossen die Sonne und ihren Uferplatz, hielten treu zu der kleinen Bahnhofsansicht und behielten dennoch wie manche alten Bilder bei aller volkstümlichen Schlichtheit einen zarten Schimmer von orientalischer Poesie.
    Ich verweilte dabei, die Flaschen zu betrachten, die die Dorfbuben in die Vivonne legten, um kleine Fische zu fangen; angefüllt vom Fluß, von dem sie ihrerseits umgeben sind, gleichzeitig »Behältnis« mit durchsichtigen Wänden wie fest gewordenes Wasser und »Inhalt«, eingetaucht in ein größeres Behältnis aus flüssigem, strömendem Kristall, riefen sie die Vorstellung von kühler Frische auf eine weit köstlichere und aufregendere Weise wach, als wenn sie auf einer Tafel gestanden hätten, denn sie zeigten nur deren Entschwinden, in jener unaufhörlichen Alliteration zwischen dem konsistenzlosen Wasser, in dem die Hände sie nicht fassen konnten, und dem bewegungslosen Glas, in dem der Gaumen sie nicht zu kosten vermocht hätte. 1 Ich nahm mir vor, später selbst mit Angelgerät an diese Stelle zu gehen; ich erreichte, daß etwas Brot von unserer mitgenommenen Vesper hervorgeholt wurde, und warf kleine Brocken in die Vivonne, in der sie sofort ein Phänomen der Übersättigung hervorzurufen schienen, denn das Wasser verfestigte sich alsbald rings um sie her in Gestalt von eierförmigen Trauben ausgehungerter Kaulquappen, die so lange wahrscheinlich aufgelöst, unsichtbar, doch bereit, sich zu verfestigen, darin enthalten waren.
    Bald gerät der Lauf der Vivonne durch Wasserpflanzen ins Stocken. Erst tauchten nur vereinzelte auf, wie jene Seerose, der die Strömung, in der sie auf eine höchst unglückliche Weise ihren Standort gewählt hatte, sowenig Ruhe ließ, daß sie wie eine mechanisch betriebene Fähre an das eine Ufer nur anstieß, um gleich darauf an das eben verlassene wieder zurückzukehren, und endlos diese doppelte Überfahrt vollzog. Wenn sie nahe ans Ufer geriet, dehnte, streckte, spannte ihr Stiel sich bis zu seiner äußersten Grenze, bis zum Rand aus, wo ihn die Strömung von neuem erfaßte, das grüne Tauwerk sich zusammenzog und die arme Pflanze bis zu dem zurückführte, was man mit um so größerem Recht als ihren Ausgangspunkt bezeichnen kann, als sie dort keine Sekunde verharrte, sondern sofort wieder zur Wiederholung des gleichen Manövers aufbrach. Ich fand sie von einem Spaziergang zum anderen wieder vor, immer in gleicher Lage, so daß ich an gewisse Neurastheniker denken mußte – zu denen mein Großvater

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