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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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emporkletterten. Ich blieb dann stehen und glaubte mir etwas Wertvolles aneignen zu können, denn ich meinte ein Stück jener Flußregion vor Augen zu haben, die ich so gern kennenlernen wollte, seitdem ich bei einem meiner Lieblingsschriftsteller 1 auf ihre Beschreibung gestoßen war. Mit ihr, mit ihrem nur in meiner Phantasie vorgestellten, von sprudelnden Wasserläufen durchzogenen Boden wurde Guermantes, das in meinen Gedanken eine Wandlung durchmachte, identisch, von dem Tag an, an dem ich Doktor Percepied von den Blumen und schönen Wasserspielen im Park des Schlosses erzählen hörte. Ich malte mir aus, Madame de Guermantes ließe mich kommen aufgrund einer plötzlichen launenhaften Zuneigung, die sie zu mir gefaßt habe; den ganzen Tag fischten wir dann zusammen Forellen. Und am Abend führte sie mich bei der Hand zu den kleinen Gärten ihrer Vasallen und zeigte mir die an den niederen Mauern lehnenden rotvioletten Blütentrauben und nannte mir ihre Namen. Sie ließ sich von mir erzählen, über welche Gegenstände ich Gedichte verfassen wollte. Bei diesen Träumen wurde mir klar, daß, da ich nun einmal später ein Dichter sein wollte, es Zeit sei zu wissen, was ich zu schreiben beabsichtigte. Sobald ich mich jedoch danach fragte und versuchte, einen Gegenstand zu finden, dem icheine allumfassende philosophische Ausdeutung geben könnte, hörte mein Geist zu arbeiten auf, ich fand mich einer Art von Leere gegenüber, ich fühlte, daß ich kein Genie besaß, oder hatte die Vorstellung, daß vielleicht eine Krankheit meines Gehirns es nicht aufkommen ließ. Manchmal rechnete ich darauf, daß mein Vater das alles in Ordnung bringen werde. Er war so mächtig, stand sich so gut mit allen zuständigen Stellen, daß wir mit seiner Hilfe sogar die Gesetze überschreiten durften, die nach dem, was Françoise mir sagte, unumstößlicher als die des Lebens und Todes waren; es gelang ihm für unser Haus als einziges im Viertel die Verputzarbeiten um ein Jahr hinauszuschieben, beim Minister für den Sohn von Madame Sazerat, die zur Kur verreisen wollte, zu erreichen, daß er das Abitur schon zwei Monate früher in der Reihe der Kandidaten machen konnte, deren Namen mit A anfing, anstatt warten zu müssen, bis die mit S daran waren. Wäre ich ernstlich erkrankt oder von Räubern entführt worden, hätte ich in der Überzeugung, daß mein Vater auf zu gutem Fuß mit den höchsten Stellen sei und zu unwiderstehliche Empfehlungsbriefe für den lieben Gott besitze, als daß meine Krankheit oder Gefangenschaft mehr als gefahrlose Trugbilder wären, in aller Ruhe die unweigerlich nahende Stunde der Rückkehr in die harmlose Wirklichkeit, die Stunde der Befreiung, der Heilung abgewartet; vielleicht war dieses Versagen des Genius, das schwarze Loch, das in meinem Geiste entstand, wenn ich nach einem Gegenstand meiner künftigen Schriften suchte, nur eine haltlose Illusion, die beim Einschreiten meines Vaters, der gewiß mit der Regierung und der Vorsehung längst vereinbart hatte, daß ich der erste Schriftsteller meiner Zeit sein werde, gleich verschwinden müßte. Andere Male aber, wenn meine Eltern ungeduldig wurden, daß ich immer zurückblieb und nicht Schritt mitihnen hielt, kam mir mein Leben dagegen – anstatt mir als eine künstliche und leicht zu regelnde Schöpfung meines Vaters zu erscheinen – wie etwas vor, das in eine nicht für mich geschaffene Wirklichkeit verstrickt war, gegen die es keinen Einspruch gab, in der ich keinen Verbündeten besaß und hinter der nichts anderes lag. Ich hatte dann den Eindruck, daß ich auf die gleiche Weise existiere wie alle anderen Leute, altern und sterben werde wie sie und in ihrer Mitte auf alle Fälle nur zu denjenigen gehörte, die keine Veranlagung zum Schreiben hätten. Resigniert verzichtete ich dann für immer auf die Literatur trotz der Ermutigungen, die Bloch mir hatte zuteil werden lassen. Das tief innerliche, unmittelbare Gefühl von der Nichtigkeit meines Denkens war stärker als alle schmeichelhaften Worte, die man an mich wenden mochte, so wie bei einem bösen Menschen, dessen gute Taten jedermann rühmt, die Stimme des eignen Gewissens.
    Eines Tages sagte meine Mutter zu mir: »Du redest doch andauernd von Madame de Guermantes; nun, weil Doktor Percepied sie vor vier Jahren so erfolgreich behandelt hat, kommt sie jetzt zur Trauung seiner Tochter nach Combray. Da kannst du sie bei der Zeremonie in der Kirche sehen.« 1 Doktor Percepied war übrigens derjenige, den

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