Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
eingerahmten Wassers bis zu einem sogenannten Lustschlößchen vor, das einsam, verloren dalag mit dem Blick allein auf den Fluß, der seine Grundmauern umspielte. Eine junge Frau, deren nachdenkliches Gesichtund elegante Schleier nicht von dieser Gegend waren und die sich zweifellos, wie man sagt, in diesem Winkel »vergraben« hatte, um die bittere Genugtuung zu haben, ihren Namen und vor allem den Namen des Mannes, dessen Herz sie nicht hatte bewahren können, hier völlig unbekannt zu wissen, zeigte sich im Rahmen des Fensters, von dem aus sie nicht weiter sehen konnte als bis zu dem Boot, das vor der Haustür angekettet lag. Zerstreut hob sie den Blick, wenn sie hinter den Bäumen des Flusses die Stimmen Vorübergehender hörte, von denen sie schon, noch ehe sie ihre Gesichter gesehen hatte, wußte, daß sie den Ungetreuen nie gekannt hatten und auch nie kennen würden, daß nichts in ihrer Vergangenheit von ihm gezeichnet war und daß auch ihre Zukunft keine Spur von ihm tragen würde. Man ahnte, daß sie in ihrem großen Verzicht willentlich die Stätten, wo sie wenigstens den, den sie liebte, noch hätte sehen können, mit solchen vertauscht hatte, die von ihm nichts wußten. Ich sah ihr zu, wie sie, heimkehrend von irgendeinem Ausgang auf einem Weg, von dem sie wußte, daß er ihr dort nicht entgegenkommen konnte, mit einer Gebärde zweckloser Anmut die langen Handschuhe von ihren schicksalergebenen Händen zog. 1
Niemals konnten wir auf unserem Spaziergang in der Gegend von Guermantes bis zu den Quellen der Vivonne 2 gelangen, an die ich oft dachte und die für mich etwas so Abstraktes und Ideales waren, daß ich ebenso erstaunt gewesen war, als man mir gesagt hatte, sie befänden sich in unserem Departement in einer gewissen in Kilometern ausdrückbaren Entfernung von Combray, wie als man mir erzählte, an einem anderen genau zu bestimmenden Ort befinde sich ein Punkt, wo im Altertum die Erde sich in die Unterwelt geöffnet habe. Niemals auch konnten wir ihn bis zu dem Ziel ausdehnen, zu dem ich so sehr gern vorgestoßen wäre:Guermantes. Ich wußte, daß dort Schloßherren residierten, der Herzog und die Herzogin von Guermantes, ich wußte, daß sie wirkliche und gegenwärtig existierende Personen waren, aber wann immer ich an sie dachte, stellte ich sie mir bald als Gestalten auf einem Gobelin wie die Gräf in von Guermantes in der »Krönung Esthers« in unserer Kirche oder aber in den wechselnden Schattierungen vor, in denen Gilbert der Böse auf dem Kirchenfenster in Tönen von Grasgrün bis Prunefarben schillerte, je nachdem ich noch Weihwasser entnahm oder schon bei unseren Stühlen angelangt war, manchmal aber auch völlig ungreifbar wie das Bild der Genoveva von Brabant, der Ahnfrau der Familie Guermantes, das die Laterna magica über meine Fenstervorhänge oder zur Zimmerdecke hinauf hatte gleiten lassen – kurz, immer vom Geheimnis merowingischer Zeiten umhüllt und wie im Abendrot jenes orangefarbenen Lichtes gebadet, das der Silbe »-antes« 1 entströmt. Wenn sie aber dennoch für mich als Herzog und Herzogin von Guermantes wirkliche, wenn auch fremdartige Personen waren, so weitete sich doch andererseits ihre herzogliche Persönlichkeit enorm aus und entstofflichte sich, um in sich das ganze Guermantes aufnehmen zu können, von dem sie Herzog und Herzogin waren: diese ganze besonnte »Gegend von Guermantes«, der Lauf der Vivonne, die Seerosen und großen Bäume und viele, viele schöne Nachmittage. Ich wußte, daß sie nicht nur den Titel eines Herzogs und einer Herzogin von Guermantes führten, sondern daß sie seit dem vierzehnten Jahrhundert, wo sie nach vergeblichen Versuchen, ihre alten Lehnsherrn zu besiegen, sich mit ihnen durch Heirat alliiert, Grafen von Combray geworden waren, die ersten der Bürger Combrays mithin und doch die einzigen, die in der Stadt nicht wohnten. Grafen von Combray, die Combray in ihrem Namen trugen, in ihrerPerson und es wohl auch in Gestalt jener seltsamen frommen Trauer besaßen, die Combray eigen war; Besitzer der Stadt, doch keines Hauses darin, wohnten sie ohne Zweifel draußen, auf der Straße, zwischen Himmel und Erde, wie jener Gilbert von Guermantes, von dem ich, wenn ich zu Camus Salz holen ging und den Kopf hob, nichts als den schwarzen Lack auf der Rückseite der Apsisfenster von Saint-Hilaire sah.
Manchmal ging ich in der Gegend von Guermantes an kleinen Gärten vorbei, an deren niederen feuchten Mauern Trauben dunkler Blüten
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