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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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»Getreuen« 3 weiblichen Geschlechts auszustoßen.
    Wenn man von der jungen Frau des Doktors absah, waren ihnen in diesem Jahr (und das, obwohl Madame Verdurin selber tugendhaft war und aus respektablem, überaus reichem, wenn auch sonst völlig obskurembürgerlichem Hause stammte, zu dem sie aus eigenem Antrieb allmählich jede Verbindung abgebrochen hatte) beinahe einzig eine mehr oder weniger der Halbwelt zugehörige Person, Madame de Crécy, die Madame Verdurin mit ihrem Vornamen Odette anredete und als »ein Schätzchen« bezeichnete, und die Tante des Klavierspielers übriggeblieben, die sicher aus der Portierloge kam; Personen also, die die große Welt nicht kannten und denen man in ihrer Einfalt so leicht hatte weismachen können, die Prinzessin von Sagan 1 und die Herzogin von Guermantes müßten arme Unglückliche bezahlen, damit sie für ihre Diners überhaupt Gäste fänden, daß die ehemalige Concierge und die Kokotte, hätte man ihnen Einladungen zu jenen beiden großen Damen verschafft, sie sehr von oben herab abgelehnt haben würden.
    Die Verdurins luden nicht zum Abendessen ein, man hatte bei ihnen sein »Gedeck«. Für den Verlauf des Abends gab es kein Programm. Der junge Pianist spielte, aber nur wenn »ihm danach zumute war«, denn auf niemanden wurde ein Zwang ausgeübt, und es galt die Devise Monsieur Verdurins: »Alles für die Freunde, es leben die Kameraden!« Wenn der Pianist den Walkürenritt oder das Vorspiel zu Tristan spielen wollte, erhob Madame Verdurin Einspruch, nicht weil ihr diese Musik mißfiel, sondern weil sie im Gegenteil zu stark auf sie wirkte. »Wollen Sie absolut, daß ich meine Migräne bekomme? Sie wissen ja, es ist immer dasselbe, wenn er das da spielt. Ich weiß doch, was mich erwartet! Morgen früh, wenn ich aufstehen will, habe ich die Bescherung!« Wenn er nicht spielte, plauderte man, und einer der Freunde, meist der zur Zeit besonders in Gunst stehende Maler, gab dann, wie Monsieur Verdurin es nannte, »ein tolles Ding zum besten, daß die Zuhörer vor Lachen den Mund nicht wieder zubrachten!«, besonders Madame Verdurin, der – so sehr hatte sie sich angewöhnt, denfigürlichen Ausdruck für ihre Gemütsbewegungen wörtlich zu nehmen – Doktor Cottard (damals noch ein junger Debütant) eines Tages den Kiefer wieder einrichten mußte, den sie sich durch zu starkes Lachen ausgerenkt hatte.
    Der Frack war verboten, weil man ja »unter sich« war, und um nicht den »Langweilern« zu gleichen, die man mied wie die Pest und die nur zu großen Abendgesellschaften eingeladen wurden, welche jedoch so selten wie möglich stattfanden, eigentlich nur dem Maler zu Gefallen oder um den Musiker zu lancieren. Ansonsten begnügte man sich mit Scharaden oder Soupers in Kostümen, bei denen man jedoch unter sich blieb und den »kleinen Kreis« um keinen Fremden vermehrte.
    Doch je größeren Raum die »Getreuen« in Madame Verdurins Leben einnahmen, um so mehr bezeichnete sie alles als langweilig und unerwünscht, was ihre Freunde von ihr fernhielt oder in der Verfügung über ihre Zeit behindern konnte, sei es nun die Mutter des einen, der Beruf des anderen oder bei einem dritten sein Landhaus oder seine schlechte Gesundheit. Wenn Doktor Cottard nach Tisch glaubte aufbrechen zu müssen, um zu einem Patienten zu eilen, der bedenklich daniederlag, so meinte Madame Verdurin: »Wer weiß, vielleicht ist es besser für ihn, wenn Sie ihn heute abend nicht mehr stören; er schläft gewiß sehr gut ohne Sie; morgen früh gehen Sie dann gleich hin und finden ihn bei bester Gesundheit vor.« Von Anfang Dezember an war sie ganz krank bei dem Gedanken, ihre Getreuen könnten sie am Weihnachtstag und am 1. Januar »versetzen«. Die Tante des Pianisten verlangte, daß er an diesem Tag in der Familie bei ihrer Mutter speiste:
    »Meinen Sie, Ihre Mutter stürbe davon«, rief Madame Verdurin unwirsch aus, »wenn Sie am Neujahrstag nicht bei ihr äßen wie die Leute in der Provinz ?«
    Ihre Ängste kehrten in der Karwoche wieder:
    »Sie, Herr Doktor, ein Wissenschaftler, ein Freigeist, Sie kommen doch gewiß am Karfreitag wie an jedem anderen Tag?« sagte sie im ersten Jahr zu Cottard in so bestimmtem Ton, als zweifle sie keinesfalls, wie die Antwort ausfallen werde. Doch sie zitterte, bis er sie gegeben hatte, denn wenn er nicht kam, lief sie Gefahr, ganz allein zu bleiben.
    »Ich komme am Karfreitag … mich verabschieden, denn wir verbringen die Ostertage in der Auvergne.«
    »In der

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