Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
gut stand, in so zynischer Weise, ihm als Kuppler zu dienen. Alle seine Freunde waren gewöhnt, von Zeit zu Zeit Briefe von ihm zu erhalten, in denen er sie um ein Empfehlungs- oder Einführungsschreiben anging mit einem diplomatischen Geschick, das in der Beständigkeit, mit der es sich durch seine aufeinanderfolgenden Liebesaffären und verschiedenartigsten Vorwände hindurch erhielt, mehr als irgendwelche taktischen Mißgriffe die stets gleichbleibende Identität seiner Wesensart und seiner Ziele enthüllte. Jahre später, als ich anfing, mich für seine Wesensart wegen der Ähnlichkeiten zu interessieren, die sie auf ganz anderem Gebiet mit der meinigen hatte, habe ich mir oft erzählen lassen, daß mein Großvater (der es noch nicht war, denn die große Liaison Swanns begann zur Zeit meiner Geburt und unterband auf lange hinaus diese Praktiken), wenn er von ihm einen Brief erhielt und auf dem Umschlag die Handschrift seines Freundes erblickte, ausrief: »Da will Swann wieder etwas von mir: Achtung!« Sei es aus jenem unbewußt diabolischen Gefühl heraus, das uns treibt, eine Sache nur denen anzubieten, die keine Lust darauf haben, setzten meine Großeltern dann selbst denkbar leicht zu erfüllenden Wünschen, die er an sie richtete, strikte Ablehnung entgegen, zum Beispiel der Bitte, ihn einer jungen Person vorzustellen, die jeden Sonntag bei uns zu Abend aß; wann immer er davon anfing, mußten sie so tun, als sähen wir sie gar nicht mehr, wiewohl die ganze Woche davon die Rede war, wen man mit ihr zusammeneinladen könnte, und oft fand sich schließlich niemand, nur weil derjenige, der darüber so glücklich gewesen wäre, nicht dazugebeten wurde.
Zuweilen kam es vor, daß irgendein mit meinen Großeltern befreundetes Ehepaar, das sich bis dahin immer beklagt hatte, daß sie Swann niemals sähen, plötzlich mit Befriedigung und vielleicht auch in dem Wunsch, Neid zu erregen, erzählte, daß er neuerdings ganz reizend zu ihnen sei und nicht mehr von ihnen weiche. Mein Großvater wollte ihnen das Vergnügen nicht verderben und warf meiner Großmutter deshalb nur einen Blick zu, während er vor sich hinsummte:
Quel est donc ce mystère?
Je n’y puis rien comprendre
Welch ein Geheimnis ist’s?
Ich kann es nicht begreifen.
oder:
Vision fugitive …
Flüchtige Vision …
oder:
Dans ces affaires
Le mieux est de ne rien voir. 1
In solchen Fällen
Sieht man am besten nichts.
Wenn dann ein paar Monate später mein Großvater Swanns neuen Freund fragt: »Nun, und Swann? SehenSie ihn noch häufig?«, machte der Angesprochene ein langes Gesicht: »Sprechen Sie seinen Namen nie mehr in meiner Gegenwart aus!« »Ach, ich dachte, Sie wären so eng mit ihm befreundet …« In dieser Weise war er während einiger Monate täglicher Gast bei Verwandten meiner Großmutter gewesen, fast jeden Abend hatte er bei ihnen gespeist. Mit einem Male stellte er ohne Erklärung seine Besuche bei ihnen ein. Man wähnte ihn krank, und die Kusine meiner Großmutter wollte gerade jemand zu ihm schicken, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, als sie in der Anrichte einen Brief von seiner Hand im Ausgabenbuch der Köchin herumliegen sah. Er teilte dieser Person darin mit, daß er Paris verlasse und nicht mehr kommen könne. Sie war seine Geliebte gewesen, und im Augenblick des Bruchs hatte er einzig sie zu benachrichtigen sich bemüßigt gefühlt.
Gehörte jedoch seine derzeitige Geliebte zur großen Welt oder war es mindestens nicht eine Person, die durch allzu bescheidene, allzu unbedeutende Herkunft oder allzu ungeordnete Verhältnisse daran gehindert worden wäre, in der Gesellschaft empfangen zu werden, dann kehrte er um ihretwillen dahin zurück, doch nur in jene spezielle Sphäre, in der sie sich bewegte oder in die er sie eingeführt hatte. »Es hat keinen Zweck, heute abend mit Swann zu rechnen«, hieß es dann, »Sie wissen doch, daß seine Amerikanerin heute ihren Tag in der Oper hat.«
Er verschaffte ihr Zutritt zu den Salons, die besonders schwer zugänglich waren und in denen er seine festen Tage, einmal wöchentlich seine Tischeinladung oder seinen Pokerabend hatte; jeden Abend, nachdem zuvor eine leichte Wellung, die er an seinen in Bürstenform geschnittenen roten Haaren vornehmen ließ, dem lebhaften Blick seiner grünen Augen etwas mehr Milde verliehen hatte, wählte er eine Blume für seinKnopfloch aus und brach auf, um seine Geliebte bei der einen oder anderen der Frauen seiner Kreise zum
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