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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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in uns. Da ihr ganzes Lied in unserem Herzen vorgezeichnet ist, haben wir es gar nicht nötig, daß eine Frau uns die erste Strophe davon rezitiert, damit wir – von der Bewunderung erfüllt, die wir der Schönheit zollen – die Fortsetzung finden. Und wenn sie gleich in der Mitte beginnt – da, wo die Herzen sich nähern, wo man bereits davon spricht, daß man nur mehr füreinander lebt –, so sind wir mit dieser Musik hinreichend vertraut, um an jener Stelle einzusetzen, an der unsere Partnerin auf uns wartet.
    Odette de Crécy besuchte Swann bald noch ein weiteres Mal, dann fing sie an, öfter zu kommen; zweifellos erlebte er bei jedem dieser Besuche von neuem die Enttäuschung, ein Gesicht vor sich zu sehen, dessen Einzelheiten er inzwischen etwas vergessen und das er weder so ausdrucksvoll noch bei aller Jugend so verblüht in Erinnerung hatte; er bedauerte, während sie mit ihm plauderte, daß die große Schönheit, die sie besaß, nicht eine Schönheit von der Art war, die er spontan bevorzugt hätte. Man muß dazu noch bemerken, daß Odettes Gesicht um so magerer und markanter schien, als dieStirn und die obere Wangenpartie, das heißt gerade der ruhigere, flachere Teil des Gesichts, bei den damals üblichen Frisuren verdeckt blieb, denn man ließ das durch »Kreppen« angehobene Haar in Form von »Simpelfransen« in die Stirn fallen und in losen Löckchen die Ohren umspielen; was ihren Körper betrifft, der bewundernswert wohlgestaltet war, so war es (infolge der damaligen Mode und obwohl sie eine der bestangezogenen Frauen von Paris war) schwierig, ihn als Einheit zu erfassen; das Mieder nämlich wölbte sich – wie über einem fingierten Bauch, um plötzlich in einer Spitze zu enden, während darunter sich doppelte Röcke ballonartig zu runden begannen – so stark vor, daß die Frau aussah, als bestände sie aus verschiedenen, schlecht miteinander verbundenen Teilen; und die Rüschen, die Volants und das Westchen verfolgten in völliger Unabhängigkeit je nach der Laune ihrer Form oder der Beschaffenheit ihres Stoffes eine Linie, die sie zu den Schleifen, dem Spitzengebausche, den Jett-Fransen führte oder sie auch dem Miederstab entlanggleiten ließ, doch in keiner Weise richteten sie sich nach dem Lebewesen, das sich je nachdem, ob die Architektur dieses Flitterkrams sich der seinigen zu sehr näherte oder sich zu weit davon entfernte, darin eingeschnürt oder verloren fand. 1
    Freilich, wenn Odette gegangen war, lächelte Swann bei dem Gedanken an ihre Worte, daß ihr die Zeit so lang werde, bis er ihr erlaube, wieder zu ihm zu kommen; er erinnerte sich an die besorgte, schüchterne Miene, mit der sie ihn einmal bat, daß es doch nicht zu lange dauern möge, und ihre gleichzeitig in ängstlichem Flehen auf ihn gerichteten Blicke, die sie so rührend erscheinen ließen unter dem Strauß aus künstlichen Stiefmütterchen an ihrem runden weißen Strohhut mit den Kinnbändern aus schwarzem Samt. »Und Sie«, hatte sie hinzugesetzt, »kommen wohl gar nicht einmal zu mir zum Tee?« Erhatte laufende Arbeiten vorgeschützt, eine Studie über Vermeer van Delft 1 , die er in Wirklichkeit vor Jahren aufgegeben hatte. »Ich verstehe ja, daß ich armes Geschöpf nicht gegen so große Gelehrte wie Sie aufkommen kann«, hatte sie zur Antwort gegeben. »Ich käme mir vor wie der Frosch vor dem Areopag. 2 Und dabei würde ich mich so gern bilden, Wissen erwerben, eingeweiht sein. Ich denke es mir riesig amüsant, in alten Büchern zu stöbern und die Nase in vergilbtes Papier zu stecken«, hatte sie mit der selbstzufriedenen Miene einer eleganten Frau hinzugefügt, die von sich behauptet, es sei ihr größtes Vergnügen, ohne Angst vor Verunreinigung schmutzige Dinge anzufassen und zum Beispiel beim Kochen selbst »mit Hand anzulegen«. »Sie werden über mich lachen, aber von diesem Maler, der Ihnen keine Zeit für mich läßt (sie meinte Vermeer damit), habe ich noch nie etwas gehört; lebt er noch? Kann man in Paris Bilder von ihm sehen, ich möchte mir doch so gern vorstellen können, was Ihnen am Herzen liegt, ich möchte erraten, was sich hinter dieser großen Stirn zuträgt, die immer so viel denkt, und mir sagen können: Aha! Damit beschäftigt er sich jetzt. Es wäre wunderbar, mit Ihrer Arbeit verbunden zu sein.« Er hatte sich mit seiner Furcht vor neuen Freundschaften entschuldigt, mit dem, was er aus Galanterie als seine Angst vor Kummer und Leid bezeichnete. »Sie fürchten sich vor einem starken

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