Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Abendessen zu treffen; und bei der Vorstellung, wieviel Bewunderung jene im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses stehenden Leute, bei denen er den Ton angab, ihm im Angesicht der Frau, die er liebte, zollen würden, fand er von neuem einen Reiz an diesem mondänen Leben, dem gegenüber er gleichgültig geworden war, dessen Substanz ihm nun aber, seit er ihr eine neue Liebe einverleibt hatte und sie von der Wärme einer darin eingeführten und darin spielenden Flamme sanft durchdrungen und getönt wurde, köstlich und schön vorkam.
Während jedoch alle diese Beziehungen oder alle diese Flirts immer die mehr oder weniger geglückte Verwirklichung eines Wunschtraums gewesen waren, der ihm beim Anblick eines Gesichtes oder einer Gestalt gekommen war, die er spontan und ohne sich darum zu bemühen anziehend gefunden hatte, bemerkte er dagegen in Odette de Crécy, als er ihr eines Abends im Theater von einem ihrer verflossenen Freunde vorgestellt wurde – dieser Freund hatte von ihr als einer entzückenden Person gesprochen, mit der sich vielleicht etwas anfangen lasse, sie aber gleichzeitig als schwerer zu erobern hingestellt, als sie in Wirklichkeit war, um sich selbst den Anschein um so größerer Liebenswürdigkeit zu geben, daß er sie mit ihm bekannt machte –, zwar eine gewisse Schönheit, doch eine Art von Schönheit, die ihm nichts sagte, die in ihm kein sinnliches Verlangen weckte und sogar einen gleichsam physischen Widerwillen hervorrief, eine jener Frauen, wie sie, für jeden verschieden, jedermann kennt und die das Gegenteil darstellen zu dem Typ, nach dem unsere Sinne verlangen. Um ihm zu gefallen, hatte sie ein zu ausgeprägtes Profil, eine zu zarte Haut, zu vorstehende Backenknochen und zu müde Züge. Ihre Augen waren schön, doch so groß, daßsie unter ihrem eigenen Gewicht nachgaben, ihrem übrigen Gesicht etwas Ermattetes und ihr selbst immer den Anschein von schlechtem Befinden oder schlechter Laune verliehen. Kurz nach der Vorstellung im Theater hatte sie an ihn geschrieben und ihn gebeten, ihr doch seine Sammlungen zu zeigen, die sie riesig interessierten, »sie, die zwar nichts davon verstehe, aber doch so schrecklich gern schöne Sachen sehe«, und ihm erklärt, sie werde ihn gewiß besser kennen, wenn sie ihn in seinem »home« gesehen habe, wo sie ihn sich so »behaglich beim Teetrinken und Bücherlesen« vorstellte, obwohl sie ihm gegenüber ihr Erstaunen nicht verborgen hatte, daß er in einer Gegend von Paris wohne, wo es doch eher trist sein müsse und die »so wenig smart sei für ihn, der es doch in so hohem Maße sei«. Nachdem er sie dann schließlich bei sich empfangen hatte, drückte sie ihm beim Abschied ihr Bedauern aus, daß sie nur so kurz in dieser Wohnung habe bleiben können, die überhaupt betreten zu dürfen sie doch so glücklich gemacht habe, wobei sie von ihm sprach, als bedeute er ihr mehr als andere, die sie kannte, und zwischen ihnen beiden eine Art von romantischer Verbindung herzustellen schien, die ihn lächeln machte. In dem schon etwas illusionslosen Lebensalter aber, dem Swann sich näherte, wo man sich damit zu bescheiden weiß, selber verliebt zu sein und nicht auf allzuviel Gegenseitigkeit zu rechnen, kann eine solche betonte Nähe der Herzen, wenn sie auch nicht mehr wie in der ersten Jugend das Ziel ist, nach dem die Liebe notwendigerweise strebt, doch noch durch eine so wirksame Ideenassoziation mit dieser verbunden sein, daß sie die Ursache davon werden kann, wenn sie zuerst auftritt. Einst träumte man davon, das Herz der Frau zu besitzen, in die man verliebt war; später kann das Gefühl, das Herz einer Frau zu besitzen, schon genügen, uns in sie verliebt zu machen. In dem Alteralso, wo man annehmen müßte, daß, da man ja in der Liebe vor allem ein subjektives Vergnügen sucht, das Wohlgefallen an der Schönheit einer Frau den weitaus größten Anteil daran haben müßte, kann die Liebe – auch die ganz körperliche Liebe – entstehen, ohne daß ihr ursprünglich sinnliches Verlangen zugrunde gelegen hätte. In dieser Epoche des Lebens ist man von der Liebe schon mehrmals angerührt worden; sie rollt nicht mehr aus sich selbst nach ihren eigenen unbekannten und schicksalsbedingten Gesetzen in unserem staunend und passiv davon betroffenen Herzen ab. Wir helfen nach, wir nehmen durch Erinnerung und Suggestion Fälschungen daran vor. Wenn wir eines ihrer Symptome wiedererkennen, erinnern wir uns an andere und erwekken sie selbst zum Leben
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