Auf die feine Art
wahrscheinlich wegen meines Kleidungsstils. Meine kleinen Schwestern hatten sich schon mit zwanzig wie ältere Tanten angezogen, während ich immer noch in Turnschuhen und mit Zottelfrisur herumlief.
»Ich versteh euch nicht!«, brauste ich auf. »Warum habt ihr es eigentlich so eilig gehabt, mit dem Studium fertig zu werden und ein geregeltes Leben zu führen? Na schön, für euch mag das ja das Richtige sein, aber warum wollt ihr unbedingt, dass ich auch so lebe?«
»Du bist doch diejenige, die immer am besten weiß, wie andere Leute leben sollen«, gab Helena zurück. »Ewig gibst du Ratschläge und Befehle und wirst wütend, wenn man nicht genau das tut, was du sagst. Typisch besserwisserische große Schwester. Als Anwältin bist du bestimmt gut, da kannst du dich den ganzen Tag mit anderen streiten.«
Ich starrte sie verdattert an. Meiner Erinnerung nach war ich in unserer Familie diejenige gewesen, die sich immer anpassen musste. »Maria, ärgere deine kleinen Schwestern nicht!« – »Gib Eeva die Puppe, du bist schon groß, du kannst auch mit anderen Sachen spielen.« – »Trag mal die Teppiche raus, du bist doch groß und stark.« – »Jetzt kannst du keine Musik machen, Eeva und Helena haben die Hausaufgaben noch nicht fertig. Sie sind nicht so schnell wie du.«
Ich würde nie vergessen, was meine Mutter einmal zu ihrer Freundin gesagt hatte: »Eeva und Helena brauchen mich. Maria hat mich nie gebraucht, sie war von Anfang an selbständig und stark. Und eine Mutter liebt eben die Kinder am meisten, die sie brauchen.«
Damals hatte ich mich gefragt, wozu meine Schwestern angeblich unsere Mutter brauchten, brav und anständig, wie sie waren; die Sensible, die in der Pubertät fast durchdrehte, war doch ich! Aber meine Eltern hatten nur meine Lederjacke und meine Burschikosität gesehen und nicht mal versucht, unter die Oberfläche zu gucken. Sie glaubten, mich in- und auswendig zu kennen, aber sie sahen nur, was sie sehen wollten.
»Wofür haltet ihr mich eigentlich?«, fragte ich. Vielleicht war es am besten, alles rauszulassen, die ganze Bitterkeit, die ich jahrelang mit mir herumgetragen hatte, die Verbitterung des ungeliebten Kindes.
»Nimm’s nicht krumm, Maria. Helena und ich haben in letzter Zeit viel über diese Dinge gesprochen, über uns und unsere Kindheit. Wahrscheinlich wird das Thema wieder wichtig, wenn man selbst ein Kind erwartet. Da überlegt man eben, ob man die gleichen Fehler machen wird wie die eigenen Eltern«, sagte Eeva ruhig.
»Wir haben beide einen Maria-Komplex gehabt. Du warst gut in der Schule, du konntest dich durchsetzen. Du bist nie weinend vom Schulhof gerannt, weil die Jungen dich geärgert hatten …«
»Das hätte ich manchmal gern getan, aber mir war das ja nicht erlaubt«, fiel ich Helena ins Wort. »Ich hab euch beneidet, vor allem dich, Helena, weil ihr immer gehätschelt und verwöhnt wurdet, ihr durftet immer die Kleinen sein. Mich haben sie nur nach draußen geschubst, ich musste sehen, wie ich zurechtkam.«
»Musst du mich immer unterbrechen? Lass mich ein einziges Mal von mir selber reden! Glaubst du, es wäre mir leicht gefallen, selbständig zu werden, nachdem ich immer nur das Baby war? Du hältst mich für doof, Eeva meint, ich wäre ein Tollpatsch und könnte nicht mal Kartoffeln kochen. Was habt ihr euch alle gewundert, als ich das Abitur geschafft und sogar einen Studienplatz gekriegt hab!« Helena klimperte heftig mit den violett getuschten Wimpern, sie war den Tränen nahe. Ich auch.
»Ich war erleichtert, als du zur Polizeischule gegangen bist und nicht etwa Medizin studiert hast«, nahm Eeva den Faden auf. »Also warst du doch nicht so toll, wie alle dachten. Ich weiß noch, wie enttäuscht unsere Eltern waren, wenn die Leute fragten, wo Maria studiert, und sie sagen mussten, an der Polizeischule. Schon gut, Maria, ich bin ja auch der Meinung, dass Eltern ihre Kinder nicht mit solchen Erwartungen belasten sollten, aber für mich und Helena war das eben eine Erleichterung. Ich hab zwar nur ein mittelmäßiges Abitur gemacht, aber immerhin hab ich sofort einen Studienplatz bekommen, und unsere Eltern konnten mit mir angeben – und ein Jahr später mit Helena.«
»Aber dann hast du mit dem Jurastudium angefangen, und das ist ja fast genauso angesehen wie Medizin«, meinte Helena.
»Unser Fremdsprachenstudium war daneben gar nichts mehr wert.«
»War das wirklich so? Das hab ich nicht gemerkt. Ich wollte niemandem Komplexe beibringen. Aber
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