Auf die Ohren
entgegen.
Ich nehme Position ein und hebe meine Drumsticks.
»Eins, zwei, drei, vier!«
Christopher fängt mit seinem Riff an, zweimal leer, dann stoßen Robbie und Steffen dazu. Zweimal alle zusammen, dann setzt der Gesang ein, erste Strophe.
Schwarze werden ausgelacht.
Asylanten werden umgebracht.
Rentner um ihr Geld betrogen.
Ständig wird man angelogen.
Wahnsinn, ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn sie anfängt zu singen. Jedes Mal. Und wenn ich sie sehe sowieso. Das schönste Mädchen der Welt. Mein Engel in Schwarz. Clarissa Martens. Ich kann es manchmal immer noch nicht richtig glauben. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht? Ich meine, nicht nur dass sie eine derartig sensationelle Stimme hat und Vinnie diesbezüglich mehr als adäquat ersetzt – dieses bezauberndste, hübscheste, sexyste, großartigste Mädchen aller Zeiten ist doch tatsächlich meine Freundin. Jawohl, ist sie! Und nicht nur wie zwei lange Jahre vorher in meinen kühnsten Träumen, sondern wirklich und wahrhaftig! Ich darf sie küssen! Ich darf sie anfassen! Überall! Ich darf sogar mit ihr schlafen und – was mindestens genauso schön ist – ich darf morgens neben ihr aufwachen! Und das alles darf nur ich und ich allein! Also bildet euch bloß keine Schwachheiten ein, wenn ihr sie auf der Bühne stehen seht und euch unvermeidbar unsterblich in sie verliebt! Vergesst es, keine Chance! Das ist mein Mädchen und sie liebt nur mich. Mehr als ihre Gänsehaut verursachende Stimme werdet ihr nie von ihr kriegen.
Türken werden heimgebeten.
Obdachlose werden totgetreten.
Nachbarn werden denunziert.
Viel zu viel ist schon passiert.
Und dabei hat sie sich anfangs noch vehement geweigert, bei uns als Sängerin einzusteigen. Sie fand ihre Stimme nämlich alles andere als gut. Das muss man sich mal vorstellen! Dieses Mädchen singt locker jeden noch so guten Punkrocker an die Wand! Hätte ich sie nicht zufällig dabei erwischt, wie sie bei mir unbewusst einen Ramones -Song mitträllerte, wäre ihr Riesentalent wahrscheinlich für immer unentdeckt geblieben. Es dauerte über zwei Wochen, bis ich sie dazu überreden konnte, bei den Proben Olaf, einen unserer alten Songs, vorzusingen, und noch während der ersten Strophe klappten die Kinnladen der Jungs vor ungläubigem Staunen synchron nach unten. Dann dauerte es noch mal zwei Wochen, bis wir sie so weit hatten, als Sängerin fest bei uns einzusteigen. Aber selbst heute ist sie noch nicht wirklich überzeugt von ihrer Stimme – da ist sie allerdings die Einzige.
Steffen grinst mich wissend an. Gleich kommt die Bridge, bei der ich mich immer wieder gern mal verhaue. Ich grinse zurück. Heute nicht, mein lieber Bassist. Volle Konzentration, über die Toms und wieder zurück auf die Snare, ab in den Refrain und Mitsingen nicht vergessen.
So viele Menschen – ein so großes Land!
So viele Menschen – so wenig Verstand!
Hass und Verachtung – Falschheit und Stolz!
Herzen aus Deutschland – Schädel aus Holz!
Ja, ich weiß, das ist jetzt nicht wirklich witzig, nicht so wie unsere älteren Sachen. Wir sind ein bisschen politischer geworden, also eigentlich bin ich ein bisschen politischer geworden, was sich in meinen neuen Texten niederschlägt. Früher habe ich mich so gut wie gar nicht für solche Themen interessiert. Politik, Gesellschaft, soziale Ungerechtigkeit, das alles ging mir so ziemlich am Arsch vorbei. Mein soziales Gewissen beschränkte sich bisher darauf, nicht vor Kindern bei Rot über die Straße zu gehen und freundlich zu Müllmännern zu sein. Dass sich das geändert hat, liegt hauptsächlich an Clarissa. Okay, es liegt eigentlich nur an Clarissa. Sie interessiert sich sehr für diese Thematik, ist sogar (freiwillig!) in der Politik- AG und bei etlichen sozialen Projekten aktiv. Am Anfang fand ich das eher befremdlich, aber nach einer Weile hat sie mich mit ihrem Engagement und ihrer Hilfsbereitschaft förmlich angesteckt. Sie brachte mich sogar dazu, dass ich letztes Jahr den ersten Weihnachtsfeiertag in einer Obdachlosenküche verbracht und dort Essen ausgeteilt habe. Darauf wäre ich früher im Leben nicht gekommen – meine Eltern auch nicht. Als ich ihnen von diesem Vorhaben erzählte, stürzte meine Mutter sofort zum Medizinschrank und zückte das Fieberthermometer. Natürlich, zugegeben, anfangs habe ich solche Aktionen nur mitgemacht, um Clarissa zu zeigen, dass ich mich für die Sachen interessiere, die ihr wichtig sind. Mittlerweile interessiert
Weitere Kostenlose Bücher