Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
vollkommen selbstverständlich für ihn. Deshalb wundert mich nicht, dass er nicht weiß, was in ihm genau seine Gefühle dauerhaft so »stumpf« macht. Trotzdem möchte ich ihn dazu bringen, sich mit seinem Zustand etwas genauer auseinanderzusetzen. Deshalb frage ich ihn, ob er es für möglich hält, dass er seine Gefühle aus eigenem Antrieb »herunterregelt«. Darüber denkt er länger nach, bevor er sagt: »Wenn, dann wäre es absolut unbewusst. Mir ist noch nie aufgefallen, dass ich mir jemals so was denken würde wie: Oh, da kommt ein Gefühl, das muss ich runterregeln. Bei mir ist das mehr so ein … hm«, wobei er mit gleichgültigem Gesichtsausdruck die Schultern zuckt.
Das Schulterzucken drückt etwas aus, was in einigen unserer Gespräche immer wieder ein Thema war: Wenn Christian überhaupt mal etwas fühlt, dann immer so schwach, dass es ihn nie wirklich belasten oder sogar bedrohen könnte. Dadurch verhindert er, jemals wieder so stark zu leiden wie in seiner Kindheit. Hier hat er etwas mit kriminellen Psychopathen gemeinsam: Auch diese sind durch emotionale Verletzungen in der Kindheit »gefühlstaub« geworden.
Alle ungewöhnlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen von kriminellen und nicht-kriminellen psychopathischen Menschen hängen mit zwei Dingen zusammen: Erstens litten sie als Kinder unter anderen Menschen, was sie vollkommen überforderte. Zweitens zog bei ihnen allen das Gehirn irgendwann die »Notbremse« und schaltete ihre Gefühle ganz oder zum größten Teil ab. Wenn man psychopathische Menschen verstehen will, muss man dies bei allem, was sie sagen und tun, im Auge behalten.
Wie können Gefühle einfach verschwinden?
Bis vor kurzem wussten Wissenschaftler nur wenig darüber, wie sich das Gefühlsleben von Psychopathen zwischen ihrer Kindheit und ihrem Erwachsenenalter genau verändert. Aber just in diesem Jahr – 2013 – stellte der Psychologieprofessor Dr. David Kosson von der »Rosalind Franklin University« in Chicago zu diesem Thema seine aktuellen Forschungsergebnisse vor. Er fand heraus, dass Psychopathen bis zum Alter von ungefähr fünfzehn Jahren deutlich stärkere unangenehme Gefühle empfinden als andere Kinder und Jugendliche. Sie sind nicht nur häufiger wütend, sondern auch häufiger depressiv und sogar ängstlich. Spätestens ab ihrem fünfzehnten Lebensjahr scheint der »innere Gefühlsschalter« jedoch umgelegt zu werden, und ihre Gefühle »erstarren«.
Auf ein Gefühl trifft das allerdings nicht oder nur zum Teil zu: Wut. Dies entspricht der Beobachtung, dass die einzige nicht gespielte starke Gefühlsreaktion von sonst gefühlsverminderten Psychopathen Wut ist. Dass dieses Gefühl »übrig bleibt«, macht Sinn, denn es ist das einzige, das Psychopathen als »Notfallreaktion« ihres Gehirns nützlich ist, um sich gegen andere Menschen zu wehren.
Vielleicht fragen Sie sich, wie es sein kann, dass Gefühle in einem Menschen erstarren. Darüber weiß die Wissenschaft bisher noch nicht sehr viel. In Untersuchungen von Psychopathen konnte zwar gezeigt werden, dass ihre »Gefühls-Gehirnbereiche«, wenn sie erwachsen sind, nicht mehr »anspringen«, so wie sie es bei normalen Menschen tun. Es ist aber bis heute unbekannt, warum dies nicht passiert. Einen Hinweis darauf fand Robert Hare – Erfinder der »Psychopathie-Checkliste« – allerdings schon 1978 durch eine Untersuchung, die belegte, dass Psychopathen anscheinend gar nicht so kaltblütig sind, wie es auf den ersten Blick aussieht.
Bei dieser Untersuchung wurde psychopathischen und nicht-psychopathischen Straftätern angekündigt, sie würden ungefährliche, aber schmerzhafte Stromschläge erhalten. Die Sekunden bis zum Stromschlag wurden jeweils laut heruntergezählt. Es ging in dem Versuch nicht wirklich darum, wie jemand auf einen Stromschlag reagiert, sondern was in seinem Körper vorgeht, wenn er vor dem Schlag Angst bekommt. Hare fand heraus, dass »normale« Straftäter typische körperliche Angstreaktionen zeigen: Ihr Herzschlag ging beim Countdown hoch, sie begannen stark zu schwitzen, und ihr Körper zeigte diese Reaktion auch noch eine Weile, nachdem sie den Stromschlag erhalten hatten.
Psychopathische Straftäter reagierten anders: Sie schwitzten kaum. Daraus hätte man also schließen können, dass sich bei ihnen einfach keine Angst einstellt. Doch das stimmt nicht ganz. Ihr Herzschlag ging beim Herunterzählen der Sekunden erst deutlich hoch, sogar höher als bei den nicht-psychopathischen
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