Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Straftätern. Nach dem Stromschlag war er aber deutlich niedriger. Hare deutet dieses Ergebnis so, dass psychopathische Gehirne eine Strategie entwickeln, unangenehme Gefühle wie Angst schnell und unwillkürlich »herunterzuregeln«. Das tun sie, noch bevor es dem betroffenen Menschen bewusst wird.
Hares Meinung nach weist der extrem hohe Herzschlag in Erwartung eines Stromschlags darauf hin, dass im psychopathischen Gehirn und somit auch Körper etwas passiert, das sehr schnell das aufkommende Gefühl unterdrückt. Dass dieser Vorgang erfolgreich ist, sieht man Hare zufolge daran, dass die typische Angstreaktion der Haut – starkes Schwitzen – ausbleibt und dass nach dem angsteinflößenden Ereignis der psychopathische Körper wieder funktioniert, als sei nichts gewesen.
Psychopathische Gehirne scheinen demnach unwillkommene Gefühle schnell herunterregeln zu können, was aber zumindest mit energieraubenden Körperreaktionen verbunden ist. Dies passt zu einer Beobachtung, die mich bei Interviews mit Christian zunächst erstaunte: Wenn wir auf Themen kamen, die ihm wirklich unangenehm sind, wurde er regelmäßig müde. Meist gähnte er sogar – was er sonst nur selten tut –, kurz bevor ihm selbst auffiel, dass er müde war. Zunächst dachte ich, dies könnte vorgetäuscht sein, um dem Thema aus dem Weg zu gehen.
Doch er sagte mir, ihm sei dies irgendwann bei sich aufgefallen, und er fände es selbst merkwürdig: Wenn unangenehme Situationen und Gefühle auf ihn zukommen, wird er immer wieder schlagartig müde. Dies nerve ihn selbst manchmal, weil er dies beispielsweise in den seltenen heftigen Streitsituationen mit Menschen, die ihm nahestehen, erlebt. Dadurch kann er sich auch schlechter als sonst konzentrieren. Dass dies keine Ausrede war, merkte ich während unserer Interviews häufiger. Wenn wir an heikle Punkte kamen, sprach er meist noch eine Weile weiter über das gerade unangenehme Thema, obwohl er sichtlich müde wurde und sich schlecht konzentrieren konnte. Danach war er manchmal erschöpft wie nach einem sehr harten Arbeitstag.
Alexander – der noch weniger Gefühle zeigt als Christian – weist eine andere Besonderheit auf: Er braucht eine feste Anzahl Stunden Schlaf zu festgelegten Zeiten. Schläft er deutlich weniger, zeigt auch er Gefühle – er wird gereizt, sogar aggressiv und wütend.
Mit Schuldgefühlen »gut umgehen«
Kriminelle Psychopathen empfinden keine oder nur sehr schwache Schuldgefühle. Deshalb können sie so leicht Menschen ausrauben, verletzen oder töten. Christian hat noch nie eine Straftat begangen, obwohl er mittelmäßig psychopathisch ist. Ich möchte daher von ihm wissen, ob er auch manchmal Schuldgefühle empfindet. »Kommt drauf an«, sagt er und ergänzt lachend: »Nicht generell.« Als ich ihn frage, was er damit meint, überlegt er kurz und antwortet grinsend: »Es gibt Schuldgefühle bei mir, aber nie lange. Ich denke, ich kann mit Schuld gut umgehen«, sagt er und lacht wieder. »Frag mich nicht, das ist ein bisschen schwierig. Klar gibt es Schuldgefühle. Aber ich kann nie sagen, wie stark sie sind. Ich kann nur sagen, dass sie mich nie besonders belasten und nie lange anhalten. Sie lassen sich auch gut relativieren.« »Also redest du sie dir weg?«, frage ich. »Nö«, antwortet er, »ich kann Schuld auch einsehen, wenn ich irgendwas verbockt hab. Aber es kann mir dann trotzdem egal sein nach ’ner Weile.«
Das Leben mit anderen Menschen als Schachspiel betrachten
– Lügen und Manipulation
Ich weiß, dass Christian, wie andere Psychopathen, schnell und geschickt lügen kann, um andere Menschen zu beeinflussen. Also spreche ich ihn darauf an: »Du bist ja ein ungewöhnlich guter Ausredenerfinder. In deinem Alltag erfindest du eine Menge Ausreden und Lügen, um deine Kosten gering zu halten.«
Christian erwidert: »Das mag sein.« Da wir das Thema schon einige Male angesprochen haben, frage ich: »Das ist dir inzwischen auch schon mal aufgefallen, oder?« Er grinst und sagt: »Du hältst es mir häufiger mal unter die Nase.« Weil ich prüfen will, ob er inzwischen wirklich dazu steht, frage ich: »Glaubst du, ich irre mich da? Das kann ja absolut sein.« Ohne zu zögern antwortet er: »Wahrscheinlich irrst du dich nicht.«
Mich interessiert, wie er sich dieses Verhalten selbst erklärt: »Was denkst du, warum du dazu neigst, viel zu lügen und andere zu manipulieren?« »Hm …«, er überlegt länger, bevor er sagt: »Warum ich dazu tendiere, zu
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