Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
schleunigst umkehren und in die entgegengesetzte Richtung gehen. Nach einigen Schritten merken Sie erleichtert, dass es Ihnen zunehmend besser geht. Irgendwann haben Sie gar keine Beschwerden mehr. Sie finden den Baum nach diesem Erlebnis aber nicht weniger schön als vorher. Daher legen Sie Ihre Pause genau so weit entfernt vom Baum ein, dass Sie sich einerseits wohlfühlen, ihn andererseits aber noch gut betrachten können.
Vielleicht ahnen Sie schon, was ich mit dieser kurzen Geschichte erklären möchte. Die meisten normalen Menschen sehnen sich nach einer dauerhaften, stabilen, treuen Liebesbeziehung und möchten auch irgendwann mit ihrem Partner zusammenleben. Alle Menschen haben von Geburt an das Grundbedürfnis, sich emotional zu binden, einem Menschen zu vertrauen und sich bedingungslos auf ihn zu verlassen. Kinder bauen zuerst eine Verbindung zu ihren Eltern auf, danach zu Geschwistern und anderen Verwandten, später auch zu Freunden. Wenn alles gut läuft, dann binden sich Erwachsene früher oder später an einen festen Lebenspartner.
Leider läuft es oft genug nicht so ideal. Manche Eltern vernachlässigen ihr Kind, andere sind zu streng und überfordern es mit unangemessenen Erwartungen. Dann fühlt sich das Kind im Stich gelassen und verletzt. Wenn ein Kind – warum auch immer – von Gleichaltrigen gehänselt wird und diese ihm das Gefühl geben, minderwertig zu sein und nicht wirklich dazuzugehören, kann das ähnliche Folgen haben. Einige Kinder, die so etwas über längere Zeit erleben, misstrauen irgendwann grundsätzlich allen Menschen und halten sie auf Abstand. Damit vermeiden sie weitere emotionale Verletzungen.
Das Gehirn eines solchen Kindes entwickelt eine »allergische Reaktion«, die immer dann ausgelöst wird, wenn ein anderer Mensch ihm zu nahe kommt. Es fühlt sich dann zunehmend unwohl, eingeengt und genervt. Der Erwachsene entwickelt dann die Einstellung, dass er niemanden wirklich dauerhaft braucht und sehr gut mit sich alleine klarkommt. Partnerschaften empfindet er schnell als unangenehm; er entdeckt immer mehr Eigenschaften am Partner, die ihn stören.
Aus psychologischer Sicht sind diese Gefühle nichts anderes als die Symptome einer starken Allergie: Sobald ein solcher Mensch einem Beziehungspartner gefühlsmäßig zu nahe kommt, schaltet sein Gehirn die »allergische Reaktion« ein. Dann fühlt er sich immer unzufriedener, schlechter und denkt darüber nach, sich zu trennen. Viele solche Menschen gehen dann fremd. Dadurch fühlen sie sich besser und kommen auch mit ihrer Beziehung wieder besser zurecht.
Die »Nähe-Allergie« wird immer mehr zum festen Bestandteil der Persönlichkeit. Deshalb erinnert sich der »Nähe-Allergiker« manchmal gar nicht mehr bewusst daran, woher seine Probleme in festen Partnerschaften eigentlich kommen. Der US-amerikanische Psychologe und Experte für Paartherapien, Dr. Stan Tatkin, beschrieb diese »Allergie« in einem Interview für den Sender »Shrink Rap Radio« (was auf deutsch »Seelenklempner Rap Radio« bedeutet) so:
»Es ist nicht ungewöhnlich für solche Menschen fremdzugehen, wenn sie erst verheiratet sind oder auch schon vorher. Ein wichtiger Grund dafür ist nicht, dass sie ihren Seitensprung bevorzugen, sondern dass sie Abstand zu ihrem eigentlichen Partner aufbauen müssen. Es geht also nicht hauptsächlich darum, dass andere Sexpartner eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie haben. Das Hauptproblem ist, dass sie eine tiefe Abneigung – und manchmal auch Angst – fühlen, wenn sie anfangen, zu sehr an ihrem eigentlichen Partner zu hängen.«
Eine Gefühlsnotbremsung mit schweren Folgen
Christian erzählte mir in früheren Gesprächen, dass er grundsätzlich deutlich weniger fühlt als andere Menschen. Ich frage ihn, wann er das gemerkt hat. Er überlegt kurz, bevor er sagt: »Da könnte ich keinen Zeitpunkt für nennen.« Ich bitte ihn zu beschreiben, woran er merkt, dass er anders fühlt als die meisten Menschen. Er erzählt: »Ich denke, ganz viele Dinge versuche ich mir einfach sachlich zu erklären. Warum etwas passiert oder etwas ist, wie es ist. Ich beurteile Dinge nicht gefühlsmäßig, sondern sachlich.« Damit beschreibt er – wie auch meine anderen psychopathischen Interviewpartner – sehr treffend, was viele wissenschaftliche Forschungsergebnisse zeigen:
Psychopathische Menschen ersten Ranges – also mit stark verminderten Gefühlen – nutzen in den meisten Situationen hauptsächlich Hirnbereiche,
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