Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
die für sachliches, vernünftiges Verstehen zuständig sind. Sie können durch logisches Denken ein wenig kompensieren, dass sie auf viele Dinge nicht intuitiv mit Gefühlen reagieren. So kann ein psychopathischer Mensch, selbst wenn er Zeuge eines Autounfalls mit Schwerverletzten wird, immer noch völlig ruhig und sachlich erklären, warum alle Menschen um ihn herum entsetzt sind.
Ich frage Christian, in welchen Lebensbereichen er diesen Unterschied zu anderen Menschen besonders stark bemerkt. Wieder überlegt er kurz, bevor er antwortet: »Es kristallisiert sich raus, wenn ich mich mit anderen vergleiche. Ich weiß beispielsweise nicht, wie man mit Beziehungen umgeht. Wie nah man Menschen an sich heranlässt. Außerdem unterscheide ich mich von den meisten darin, wie sehr ich meine Gefühle für andere Menschen unter Kontrolle habe. Ich komme beispielsweise sehr gut damit klar, wenn eine Beziehung zu Ende ist. Da bin ich anders als neunzig Prozent der anderen Menschen.«
Mich interessiert, wie er selbst sein Gefühlsleben wahrnimmt. Deshalb frage ich ihn, ob er den Eindruck hat, dass seine Gefühle grundsätzlich schwächer als bei anderen Menschen sind oder ob er glaubt, dass er sie eher schnell »herunterfährt«. Darauf antwortet er: »Das ist schwer zu beurteilen, denn das Ergebnis ist bei beiden Möglichkeiten dasselbe. Ich erinnere mich, dass meine Gefühle auf jeden Fall mal normal ausgeprägt gewesen sein müssen. Als Kind hatte ich oft starke Gefühle. Beispielsweise habe ich sehr heftig reagiert, wenn es um meine Kuscheltiere ging. Das würde ich heute natürlich nicht mehr in diesem Maße tun.« Lachend fügt er hinzu: »Also zumindest bei Kuscheltieren nicht.« Dann erklärt er weiter: »Inzwischen habe ich fast nie deutliche Gefühle. Ich weiß aber nicht, ob sie abgeflacht sind oder ob ich sie einfach so gut unter Kontrolle bekommen habe. Dafür gibt es keine Messlatte.«
Christian erzählt auf meine Frage hin, in welchen Situationen er als Kind starke Gefühle wegen seiner Kuscheltiere hatte: »Na ja, wenn man beispielsweise ein kleines Kind ist und der große Bruder einem sein Kuscheltier wegnimmt. Klar, dass einen das traurig macht, dass man weint, herumschreit und ihn am liebsten umbringen würde. Da reagiert man halt gefühlsmäßig wegen einem Kuscheltier, wo man als sachlich denkender Mensch sagen könnte: ›Der spielt damit zehn Minuten, dann hat er keinen Bock mehr, wenn es mich nicht ärgert. Einfach die Fresse halten, dann kommt das Kuscheltier von alleine wieder.‹ Aber wenn man auf so Dinge anspringt, dann ist das natürlich eine gefühlsmäßige Reaktion.«
Mir fällt auf, dass Christian hier nicht mehr »ich« sagt, sondern »man«. Wenn Menschen plötzlich anfangen, von sich als »man« zu sprechen, dann bedeutet das oft, dass sie zu dem, was sie sagen, einen gewissen Abstand halten. Christian erinnert sich zwar daran, wann er als Kind starke Gefühle empfunden hat. Doch weil er schon sehr lange nur noch selten und schwach fühlt, ist diese Erinnerung für ihn weit weg. Er kann sich zwar »sachlich« daran erinnern, aber nicht mehr nachfühlen, wie es ihm damals ging. Deswegen erzählt er von seinen Gefühlen als Kind – unbewusst – in der »Man-Form«. Dadurch drückt er unwillkürlich aus, wie groß der Abstand zwischen seinen Gefühlen als Kind und seinen Gefühlen jetzt ist. Psychologisch gesehen ist es nützlich, genau darauf zu achten, mit welchen Worten Menschen etwas sagen. Dieses Beispiel zeigt, dass Menschen nicht nur durch das Was, sondern auch durch das Wie einiges über sich verraten.
Ich frage Christian, ob er sich daran erinnert, wann seine Gefühle, die in der Kindheit noch so stark waren, abflachten. Er antwortet: »Es hängt wahrscheinlich mit meiner Legasthenie zusammen. Wenn man in der Klasse den offensichtlichsten wunden Punkt hat und alle da lustig den Finger reinlegen, dann schließt man entweder seine Gefühle einfach weg oder lernt sie wesentlich besser zu beherrschen. Man merkt: Wenn ich darauf anspringe, was sie sagen, sorgt das höchstens dafür, dass noch mehr kommt. Dann ignoriere ich es halt, und es berührt mich irgendwann nicht mehr. Fertig. Ich denke, es war ein Lernprozess. Nur weiß ich nicht, ob ich gelernt habe, Gefühle schnell runterzufahren, wenn sie aufkommen, oder sie einfach ganz auszuschalten, sodass sie gar nicht mehr aufkommen.«
Christian empfindet seit über zwanzig Jahren keine deutlichen Gefühle mehr. So zu sein ist
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