Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
immer weiter zu verschulden und kriminell zu werden. Mutter antwortete darauf: ›Ich hätte euch Kinder gehasst, wenn ich wegen euch zum Arbeitsamt hätte gehen müssen.‹ Ich war trotz allem, was ich bis dahin mit ihr erlebt habe, total geschockt von dieser Aussage.«
Tinas Mutter erpresste ihre Kinder immer auf dieselbe Art: mit der Liebe der Geschwister zueinander. Dies ist sicher eins der grausamsten emotionalen Zwangsmittel, die eine Mutter ihren Kindern antun kann. Tina beschreibt, wie sie als Kind in der gleichen Situation war wie ihre kleine Schwester Linda heute:
»Als meine große Schwester Cindy nicht mehr bei uns wohnte, hatten wir erst einmal keinen Kontakt mehr zueinander. Sehr viel später, als sie schreiben gelernt hatte, haben wir uns ein paarmal Briefe geschrieben oder sagen wir besser: Wir versuchten es. Ab und zu habe ich einen Brief, der an mich adressiert war, bekommen. Oft aber verschwanden die Briefe, nachdem unsere Mutter sie gelesen hatte, im Schrank, ohne dass ich sie zu sehen bekam. Wenn ich antwortete, dann musste ich schreiben, was unsere Mutter mir vorgab. Das waren dann Aussagen wie: ›Wenn Du Kontakt zu uns Kindern haben willst, dann geht das nur, wenn Du auch Kontakt zu Mama hast.‹ Ich musste meine Schwester auch im Brief fragen, warum sie unsere Mutter nur noch bei ihrem Vornamen nennt und nicht ›Mama‹ zu ihr sagt. Meine Schwester merkte dann, dass der Inhalt des Briefes nicht von mir war. Von mir war nur die Schrift.
Unsere Mutter hat lange Zeit versucht, dass Cindy und ich uns nicht wieder näherkommen. Sie hat uns gegenseitig beim anderen schlechtgemacht. Irgendwann hat das nicht mehr funktioniert. Wir schafften es, uns allein – ohne sie – zu unterhalten und die Dinge zwischen uns auf diese Weise zu klären. Ich bekam dadurch meine Schwester wieder, habe sie unheimlich lieb gewonnen und bin froh, dass wir eine zweite Chance bekommen haben. Heute schafft unsere Mutter es nicht mehr, einen Keil in unsere Geschwisterbeziehung zu treiben.«
Tinas Geschwister entwickelten wegen der schwierigen Kindheit, die sie bei ihrer Mutter hatten, durch die Bank gravierende Probleme. Die Auswirkungen dieses Elternhauses schildert Tina so:
»Mein Bruder Michael ist als Jugendlicher eine lange Zeit nicht mehr nach Hause gekommen. Er schlief bei Freunden oder auch auf der Straße. Mal war er einen Tag bei uns, doch am nächsten Tag war er wieder für lange Zeit weg. Er hatte sogar Erfrierungen am Fuß, weil er im Winter auf der Straße schlief. Nach etwa eineinhalb Jahren lebte er wieder regelmäßig bei uns. Michael und auch mein Bruder Dirk haben beide regelmäßig gestohlen. Michael brach sogar in Häuser ein. Später erzählte er mir, dass er das nur gemacht habe, um ein wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen, die er zu Hause nie erfahren hatte. Auch meine jüngere Schwester Sarah lief immer wieder von zu Hause weg, übernachtete bei fremden Männern, um eine Unterkunft zu haben, stahl und kam sogar in Jugendarrest.«
Obwohl Tinas Mutter sich keinen Deut um das Wohlergehen ihrer Kinder scherte, wurde sie sehr wütend, wenn diese ihr einen Wunsch nicht erfüllten. Die Gefühle ihrer Kinder waren ihr auch dabei zutiefst egal. So ging sie nicht zur Taufe ihres Enkelsohnes, weil ihre Tochter sie nicht zur Patentante machen wollte. Als sei all dies nicht genug, benutzte Tinas Mutter ihre jüngsten Kinder ganz besonders, um sich nicht einsam zu fühlen. Auch hier machte sie sich – wie in allen anderen Dingen auch – nicht die geringsten Gedanken, wie es ihren Kindern dabei geht und was sie ihnen mit ihrem Verhalten antut. Da sie zuletzt längere Zeit ohne einen Partner lebte, begann sie ihren jüngsten Sohn zumindest emotional als »Ersatzpartner« zu missbrauchen, wie Tina schildert:
»Was für mich auch sehr schwer nachzuvollziehen ist, ist, dass mein jüngster Bruder Tim, bis Mutter ins Gefängnis kam, noch mit ihr in einem Bett geschlafen hat. Tim ist vierzehn, und das erscheint mir für sein Alter nicht normal zu sein, zumal genügend Räumlichkeiten vorhanden waren. Tim redet nicht über Probleme, er frisst alles in sich hinein.«
Dass die Mutter insbesondere Tim an sich band und sich von ihm die Aufmerksamkeit und Zuwendung holte, die ihr zu dieser Zeit fehlten, schilderte mir Tina auch in unseren Gesprächen. Manche psychopathischen Erwachsenen benutzen ihre eigenen Kinder oder in extremen Fällen sogar Kinder, die sie entführen, als »Ersatzpartner«. Diese
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