Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
aus einem Fenster in einem höheren Stockwerk zu springen. Als sie neun Jahre alt war, wurde sie bei uns durch das Jugendamt rausgeholt. Sie lebte dann bei ihrer Großmutter. Cindy sollte dann auf eine Sonderschule, denn als sie zu ihrer Oma kam, konnte sie weder lesen, schreiben noch rechnen, obwohl sie schon in der dritten Klasse war. Unsere Mutter hat sich darum nie gekümmert. Glücklicherweise kam Cindy dann auf eine spezielle Schule, wo sie später einen Realschulabschluss machte. Cindy ist seit acht Jahren stationär und ambulant in Therapie, den Kontakt zu unserer Mutter hat sie längst abgebrochen.
Auch ich bin dabei, mir einen ambulanten Therapieplatz zu suchen. Dieser Schritt fällt mir immer noch sehr schwer. Doch meine Kindheit und auch die letzten Jahre meines Lebens beeinflussen mich so sehr, dass ich damit alleine nicht mehr klarkomme. Ich kann mich nicht erinnern, je so etwas wie Mutterliebe gespürt zu haben. Vielleicht war ich zu jung, um mich daran erinnern zu können, aber in der Zeit, an die ich mich erinnern kann, habe ich mich nie geliebt gefühlt.«
Typisch für Psychopathen tat Tinas Mutter – ohne das geringste Mitgefühl oder Schuldgefühl – stets das, was ihr gerade für sich am wichtigsten erschien. Ihr Verhalten war unvorhersehbar und von ihren plötzlichen Launen abhängig. Sie schreckte dabei nicht davor zurück, ihre damals minderjährigen Kinder einfach alleine zu lassen. So war sie eines Tages plötzlich weg – mit ihrem ersten Ehemann, wie sich später herausstellte –, und eine Woche lang musste sich ein Onkel um die Kinder kümmern. Ohne Geld, ohne Essen im Kühlschrank.
Obwohl Tinas Mutter stets behauptete, ihre Kinder über alles zu lieben, zeigt ihr Verhalten das genaue Gegenteil. Ich gehe allerdings davon aus, dass Tinas Mutter in typisch psychopathischer Art »Liebe« mit »Besitz« verwechselt. In ihrer Welt sind ihre Kinder Objekte, die ihre Bedürfnisse befriedigen und dabei möglichst wenig Kosten – welcher Art auch immer – für sie erzeugen sollen. Diese Haltung ging so weit, dass ihr selbst die körperliche Gesundheit ihrer Kinder stets egal war. Unter den Folgen leiden die Kinder bis heute. Dirk, der inzwischen erwachsene Bruder, brach sich als Kind den Zeh, konnte dies mangels Versicherungsschutz aber nicht behandeln lassen. Der Zeh ist falsch zusammengewachsen. Dirk hat außerdem Probleme mit den Augen und seit frühester Kindheit – wie seine Schwester Linda – Asthma. Tina selbst hat, mangels zahnärztlicher Behandlung, bis heute einige Milchzähne.
Wie es für stark psychopathische Menschen typisch ist, war Tinas Mutter sehr geschickt darin, durch Lügen, Betrug und Erpressung immer wieder an große Geldmengen zu kommen. Sie beutete alle in ihrer Familie finanziell bis zum Äußersten aus. Obwohl sie damit ihren nächsten Angehörigen schwer schadete, sah sie nie ein, etwas falsch gemacht zu haben. So änderte sich ihr unglaublich dreistes Verhalten auch nie, bis sie schließlich für einige Betrugsdelikte – die jedoch nur die Spitze des Eisbergs waren – ins Gefängnis kam. Nur ein Beispiel von vielen:
»Als wir mit dem zweiten Mann meiner Mutter in ein anderes Bundesland zogen, wollten unsere Mutter und ihr neuer Mann ein Haus kaufen. Das haben die beiden zumindest unserer Oma erzählt. Für das Haus brauchten die beiden einen Bürgen. Oma hat mit ihrer Lebensversicherung gebürgt, die am Ende ihrer Laufzeit einen Wert von 60000 DM gehabt hätte. Zum Zeitpunkt der Bürgschaft betrug der Rückkaufswert 15000 DM. Der damalige Mann meiner Mutter ging sogar zur Bank und wollte heimlich einen zusätzlichen Kredit auf die Bürgschaft aufnehmen. Das hat nicht funktioniert, denn dazu hätte er die Zustimmung meiner Großmutter gebraucht.
Die Bank rief deshalb bei meiner Großmutter an und fragte, ob sie ihr Einverständnis dafür gegeben hätte, was sie natürlich nicht hatte. In diesem Gespräch teilte man meiner Großmutter mit, dass über einen längeren Zeitraum die Raten für den Kredit nicht gezahlt wurden. Der Mitarbeiter der Bank hat meiner Großmutter angeboten, dass sie die Versicherung zurückkaufen kann, allerdings musste sie dafür die nicht gezahlten Raten begleichen. Meine Großmutter kaufte letzten Endes die Versicherung für 13000 DM zurück, damit waren die von meiner Mutter verursachten Schulden beglichen. Hätte meine Großmutter die Summe nicht zahlen können, hätte sie die Versicherung verloren, welche für ihre
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