Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
in meinem Alter nicht nur gezielt ein Praktikum in einer solchen Einrichtung gesucht hatte, sondern jetzt auch freiwillig meine Zeit mit den Gefangenen verbrachte. Eine kleine, junge Frau auf einem Flur voller schwerer Straftäter, so völlig ohne Angst und ohne negative Gefühle, obwohl ich ja von vielen dort inzwischen wusste, was sie getan hatten. Er sagte, ich solle wissen, dass Menschen wie er sehr dankbar seien für Menschen wie mich, die sie nicht direkt abschreiben.
Das war eine der Situationen im Knast, die ich nie vergessen werde. Es war das erste Gespräch dieser Art, das ich führte, und es blieb nicht das einzige. Dieser Mann hatte nichts davon, so mit mir zu sprechen. Ich hatte als kleine Praktikantin nicht den geringsten Einfluss darauf, was mit ihm in Zukunft passieren würde. Die Straftäter in solchen Einrichtungen, die sich wirklich auf diese Art durch Therapie verändern, sind einfach aufrichtig dankbar. Das immer wieder zu erleben, ist eine der größten Früchte dieser Arbeit.
In dieser Welt gibt es keine vernünftige Alternative
Viele Menschen sind der Meinung: »Täter, die besonders schwere Straftaten begangen haben, haben kein Recht auf ein neues Leben nach der Haft« – aber kein Staat der Welt besitzt die finanziellen Mittel, um alle diese Straftäter bis zu ihrem Tod unter Verschluss zu halten.
Auf dieses Argument folgt von manchen gerne das Gegenargument: dann eben die Todesstrafe. Aber auch dabei gibt es – ganz abgesehen davon, ob man, wie ich, die Todesstrafe ablehnt oder nicht – zwei wichtige Probleme:
Erstens spart man damit kein Geld, zumindest nicht, wenn man den schweren Straftätern einen fairen rechtsstaatlichen Prozess ermöglichen will. Dies beweisen Zahlen aus den USA. Dort kostet ein Prozess, in dem die Todesstrafe verhängt werden kann, mehr, als es kosten würde, den Täter bis zu seinem Lebensende in Haft zu lassen.
Zweitens fallen der Todesstrafe bis heute sehr viele Unschuldige zum Opfer. Und dies auch in Staaten, wo ihnen nach internationalen Standards ein »fairer« Prozess gemacht wurde. In den USA wurden in den letzten vierzig Jahren 142 zum Tode verurteilte Menschen – teilweise nur Stunden vor ihrem Hinrichtungstermin – entlassen, weil ihre Unschuld doch noch bewiesen werden konnte. Viele von ihnen verdanken diese Rettung DNA-Untersuchungen. Wie viele Menschen im selben Zeitraum in den USA hingerichtet wurden, nur weil sie ihre Unschuld nicht beweisen konnten, weiß niemand. Sicher ist: Die Fehlerquote ist viel zu hoch.
Es gibt nur eine vernünftige Möglichkeit, in einem modernen Rechtsstaat mit schweren Straftätern umzugehen: Jenen, die erfolgreich therapierbar sind, ein Leben nach ihrer Haft zu ermöglichen, und jene, die nicht therapierbar sind, dauerhaft einzusperren.
Dies hat auch den Nutzen, dass wir über die Ursachen und die frühzeitige Bekämpfung schwerer Verbrechen immer mehr lernen können, wenn wir mit diesen Tätern wissenschaftlich arbeiten. Diese Arbeit verhindert also sogar Straftaten, weil das durch sie erlangte Wissen für die Entwicklung von Projekten nutzbar ist, die Taten vorbeugen.
Ein sehr sinnvolles solches Projekt wurde in Deutschland durch Werbung über Plakate und im Fernsehen bekannt. Es nennt sich: »Kein Täter werden«. Es bietet ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und deshalb therapeutische Hilfe suchen. Nachdem dieses Projekt 2005 in Berlin ins Leben gerufen wurde, erreichte die Mitarbeiter eine überwältigende Zahl von Anfragen. Menschen aus ganz Deutschland waren bereit, regelmäßig lange Reisen auf sich zu nehmen, wenn sie durch das Projekt nur Hilfe bekommen konnten. Die vielen bundesweiten Anfragen führten dazu, dass neben Berlin weitere Standorte eingerichtet wurden. Inzwischen können Betroffene auch in Kiel, Hamburg, Hannover, Leipzig, Regensburg und Stralsund Hilfe bekommen. Dass dieses Projekt Taten verhindern kann, weil potenzielle Täter mit ihrer Neigung umzugehen lernen, ohne anderen gefährlich zu werden, zweifelt niemand mehr ernsthaft an.
KAPITEL 4
DIE WELT ECHTER PSYCHOPATHEN:
EIN ENDLOSER MASKENBALL
Wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
(Friedrich Nietzsche)
Gewissensirrsinn
Ende des achtzehnten Jahrhunderts fiel dem französischen Psychiater Philippe Pinel eine besondere Gruppe von Verbrechern auf. Diese unterschieden sich von anderen
Weitere Kostenlose Bücher