Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
ihrer Art dadurch, dass sie auffällig hemmungs- und gewissenlos waren. Pinel nannte sie allerdings nicht Psychopathen, sondern schrieb lediglich, sie seien dem Wahnsinn verfallen.
In den folgenden Jahrhunderten wurden die Verhaltensweisen, die heutzutage als »psychopathisch« gelten, von verschiedenen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Erklärungsversuchen beschrieben. Ein Beispiel hierfür ist die Schrift des Engländers James Cowles Prichard, der die Störung solch auffälliger Straftäter mit dem Begriff »moral insanity«, also »moralischer Irrsinn«, zu erklären versuchte. Dieser Begriff beschreibt ein Kernproblem der »Psychopathie« sehr gut: Die Normen und Werte krimineller Psychopathen unterscheiden sich deutlich von denen der meisten anderen, denn ihnen fehlt etwas, das »normale« Menschen menschlich macht: das Gewissen.
In der Welt der Psychopathen ist »gut«, was ihnen persönlich nützt, und »schlecht«, was ihnen schadet. Die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen sind ihnen vollkommen egal, außer sie können diese gezielt beeinflussen, um etwas zu bekommen, das sie wollen. Da sie weder Mitgefühl noch Schuldgefühl haben, verhalten sie sich immer wieder kaltblütig und grausam.
Dieses Verhalten wurde in allen Zeiten und Kulturen als unmoralisch angesehen, da es die Zusammenarbeit, Unterstützung und Zuverlässigkeit innerhalb einer Gruppe unmöglich macht. Menschen waren in ihrer Entwicklungsgeschichte aber seit jeher darauf angewiesen, zusammenzuleben. Deshalb setzten sich angeborene Eigenschaften durch, die das erzeugen, was wir Gewissen nennen. Das Gewissen ist im Grunde nichts anderes als ein »innerer Polizist«, der normal fühlende Menschen daran erinnert, was nach den Regeln ihrer Gruppe richtig und was falsch ist, und sie mit negativen Gefühlen bestraft, wenn sie gegen diese Regeln verstoßen.
Normal fühlende, denkende und handelnde Menschen sind also von Geburt an mit unwillkürlich auftretenden Gefühlen ausgestattet, die sich angenehm oder unangenehm anfühlen, je nachdem, welche Folgen ihr Verhalten hat. Dies ist für die meisten derart selbstverständlich, dass sie sich kaum vorstellen können, wie sie sich entwickelt hätten, wenn ihnen ihr Gewissen gefehlt hätte.
Zerbricht ein kleines Kind eine Vase und die Mutter reagiert wütend oder traurig, dann fühlt sich das normale Kind dadurch schlecht. Deshalb wird es vermeiden, nochmals eine Vase kaputt zu machen. Auf normal fühlende Menschen wirken unangenehme Gefühle, die sie unbeabsichtigt bei anderen erzeugen, auf sie selbst zurück. Das Kind macht es traurig, dass sein Verhalten seine Mutter wütend und traurig gemacht hat. Um diese emotionale Rückkoppelung zu vermeiden, lernen Menschen, sich so zu verhalten, dass sie die Gefühle anderer möglichst nicht verletzen.
Außerdem haben Kinder normalerweise Angst davor, von den Eltern für das Übertreten von Regeln bestraft zu werden. Das ist ein weiterer Grund, warum sie lernen, sich an diese Regeln zu halten. Würde ein Kind weder Angst vor der Strafe der Mutter haben noch irgendetwas dabei empfinden, wenn es seine Mutter traurig macht, warum sollte es dann lernen, Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen und sich an Regeln zu halten?
Diese schon bei der Geburt angelegten, unwillkürlichen Gefühle sind also notwendig, damit Menschen lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich aufeinander zu verlassen und mit anderen langfristig zusammenzuleben. Jeder Mensch, der von sich selbst glaubt, ein »guter« Mensch zu sein, sollte sich einmal fragen: Was wäre aus mir geworden, wenn ich die unwillkürlichen Gefühle »Mitgefühl« und »Schuldgefühl« niemals empfunden hätte? Welche Regeln hätte ich eingehalten und zu welchen »bösen« Taten wäre ich dann imstande gewesen?
Mitgefühl und Schuldgefühl sorgen nicht nur dafür, dass normale Menschen lernen, anderen möglichst nicht zu schaden, sondern sie sind auch eine Motivation, andere zu unterstützen. Um eigene unangenehme Gefühle zu vermeiden, lernen normale Menschen, anderen zu helfen, auch wenn sie selbst keinen direkten Nutzen davon haben. Wenn gute Freunde oder nahe Verwandte dringend Hilfe brauchen, fühlen sich die meisten daher verpflichtet, diesen schnell und, wenn nötig, sogar mit hohem Aufwand zu helfen. Würden sie dies nicht tun, würden sie sich unwillkürlich schuldig fühlen. Deshalb nehmen sie dafür im Zweifelsfall auch große Opfer auf sich.
So werden normale
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