Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Unterstützung –, und merkt er, dass sie ihm lästig werden oder einfach nichts mehr bieten können, zieht er weiter. Niemand ist ihm wirklich wichtig, und es gibt nichts auf der Welt, das ihn dauerhaft hält.
Irgendetwas stimmt hier nicht
Der kanadische Kriminalpsychologe Robert Hare nutzte die Merkmale, mit denen Cleckley Psychopathen beschrieben hatte, und entwickelte sie durch seine eigene Berufserfahrung weiter. Er arbeitete als Gefängnispsychologe mit inhaftierten Straftätern. Einige von ihnen beeindruckten ihn immer wieder durch ihre widersprüchlichen, auffällig gewissenlosen Verhaltensweisen und Aussagen. Sie zeigten viele der Merkmale, die ich bereits beschrieben habe. Wenn man mit solchen Menschen nicht regelmäßig näher zu tun hat, erwecken sie allenfalls einen Eindruck, den Hare in seinem 1993 veröffentlichten Buch »Gewissenlos – die Psychopathen unter uns« sehr treffend so beschreibt: »Irgendetwas stimmt hier nicht – aber ich weiß nicht genau, was.«
Durch jahrelange Arbeit und Forschung zum Thema Psychopathie entwickelte Hare eine umfangreiche, in Oberthemen aufgegliederte Liste von Merkmalen. Diese wird bis heute in der ganzen Welt zur Beschreibung und Erkennung von – allerdings in der Hauptsache kriminellen – Psychopathen verwendet. Die Forschung zu diesem Thema ist noch lange nicht abgeschlossen, Jahr für Jahr wachsen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Psychopathie. Die Merkmale von Hare werden immer weiter in Untermerkmale aufgegliedert. Wissenschaftler untersuchen beispielsweise, ob sie mit noch genaueren Merkmalen verschiedene Untergruppen von Psychopathen erkennen und beschreiben können.
Auf sehr viele wichtige Fragen zur Psychopathie fehlen jedoch noch endgültige Antworten. Wie genau entsteht diese schwere psychische Störung? Welche auffälligen Merkmale – durch die Erzieher und Lehrer sie gegebenenfalls rechtzeitig erkennen können – zeigen spätere Psychopathen schon im Kindergarten oder in der Schule? Mit welchen Methoden können Therapeuten solche Kinder gezielt behandeln, damit sie nicht zu Psychopathen heranwachsen? Wodurch genau unterscheiden sich Psychopathen, die kriminell werden, von jenen, die ebenfalls viele psychopathische Eigenschaften haben, aber niemals Straftaten begehen? Wie lassen sich kriminelle Psychopathen durch Therapien so weit verändern, dass sie zumindest keine Straftaten mehr begehen? Wie können Therapeuten und Gutachter genau erkennen, bei welchen Psychopathen jede Therapie völlig aussichtslos ist? Zu all diesen Fragen gibt es bereits einige wissenschaftliche Erkenntnisse, doch bis zur vollständigen und umfassenden Klärung werden sicher noch viele Jahre vergehen.
Der Test, den Hare 1980 entwickelte, um kriminelle Psychopathen zu erkennen, wird »Psychopathie-Checkliste« genannt. Die von Hare ermittelten Merkmale setzen sich aus Eigenschaften zusammen, die eigentlich zwei unterschiedliche psychische Störungen ausmachen: die »narzisstische Persönlichkeitsstörung« und die »antisoziale Persönlichkeitsstörung«. Es gibt Menschen, die nur die eine oder nur die andere Störung haben.
Menschen mit einer »antisozialen Persönlichkeitsstörung« begehen mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann in ihrem Leben Straftaten. Viele von ihnen fallen schon in der Schule auf, weil sie lügen, stehlen, andere Kinder bedrohen und verprügeln. Diese Verhaltensweisen werden oft immer schlimmer, sodass sie früher oder später wegen verschiedenster Straftaten ins Gefängnis kommen. Zwischen 70 und 80 % aller Straftäter in den USA und Kanada haben diese Störung. Einige Forscher beschreiben Psychopathie als eine besonders schwere Form der »antisozialen Persönlichkeitsstörung«, weil Psychopathen noch mehr starke Auffälligkeiten zeigen als Antisoziale und dadurch auch gefährlicher sind.
Es gibt – erfreulicherweise – deutlich weniger kriminelle Psychopathen als »nur« antisoziale Straftäter. Etwa 10 bis 20 % der Straftäter in Nordamerika werden als Psychopathen eingestuft. Hare selbst entwickelte seine Merkmalsliste durch Forschungen immer weiter. Die aktuelle Ausgabe der Liste beschreibt Psychopathie durch Auffälligkeiten in vier wichtigen Bereichen: Psychopathen haben nur stumpfe Gefühle. Deshalb verhalten sie sich ihren Mitmenschen gegenüber ganz anders, als es von »normalen« Menschen zu erwarten wäre. Sie haben auch einen sehr ungewöhnlichen, unsteten Lebensstil. Außerdem verhalten sie sich seit früher Jugend
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