Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
schwer, die richtigen Worte zu finden, bis er fortfährt: »Es waren eher viele Nadelstiche. Die sind nicht groß und breit verbal über mich hergezogen, sondern es war mehr die Nadelstichnummer.«
»Haben sie das über ein paar Tage oder Wochen gemacht?«, frage ich. Seine Antwort überrascht mich: »Nö, nur so ein paar Stunden, aber es hat gereicht. Danach war das auch nicht mehr so.« Um besser zu verstehen, warum er ausgerechnet an diesem Tag ausrastete, frage ich: »Wenn es nur an diesem Tag einige Stunden lang war, warum hat dich das so sehr getroffen, dass du dann ausgerastet bist?«
Sofort antwortet er: »Keine Ahnung«, überlegt aber und fügt dann hinzu: »Der Grund könnte sein, dass die Person, die mich angriff, ein Freund von mir war. Einer, von dem ich das nicht erwartet hätte.« Diese Antwort finde ich nachvollziehbar, hake aber nochmals nach: »Also wäre es jemand Fremdes gewesen, wäre es dir weniger unangenehm gewesen?« Wieder überlegt er eine Weile, bevor er sagt: »Also bei jemand vollkommen Fremdem wäre es wahrscheinlich um Längen weniger unangenehm für mich gewesen.«
Psychopathisches »Quid pro quo«
– Falls Vertrauensaufbau, dann nur mit Netz und doppeltem Boden
Vertrauen ist gut,
Kontrolle ist besser!
(Redewendung, Wladimir Iljitsch Lenin zugeschrieben)
Dies war ein wichtiger Punkt in Christians Entwicklung. Er machte die Erfahrung, wegen der Schwäche, für die er sich am meisten schämte, ausgerechnet von Menschen abgewertet zu werden, die er mochte. Vorher hatte er versucht, sich darauf zu verlassen, dass seine Freunde ihn so mögen, wie er ist. Wie ein Kind mit einer solchen Erfahrung umgehen kann, hängt davon ab, wie emotional gefestigt und ausgeglichen es zu diesem Zeitpunkt ist und wie viel Selbstwertgefühl es hat.
Christian war seine Legasthenie damals äußerst unangenehm, vor allem da er intelligent ist und sich – ebenso wie sein Umfeld – nicht erklären konnte, warum er diese »Schwäche« hat. Darunter litt sein Selbstwertgefühl. Das versuchte er schon als Kind damit zu kompensieren, dass er sich in anderen Dingen hervortat. So bekam er einmal Stubenarrest, weil er absichtlich sehr dicht vor einem Auto über die Straße rannte. Er sagte mir, er habe dies getan, weil seine Freunde dabei waren und er ihnen beweisen wollte, wie schnell und mutig er ist.
Sein emotionales Vertrauen in Menschen hat wegen der Reaktionen seines Umfeldes auf die damals noch nicht richtig verstandene Legasthenie deutlichen Schaden genommen. Von daher wird nachvollziehbar, warum er als Erwachsener viele Strategien nutzt, um andere Menschen nie zu nah an sich herankommen zu lassen. Christian sagte mir einmal, dass er sich wie eine schwarze Glaskugel wahrnimmt, in die er andere nicht hineinschauen lässt.
Dass er mir mit der Zeit tiefere Einblicke gewährte, verstieß gegen seine »Grundregel«, wie er mir auch klar sagte. Er wehrte sich nicht mehr sofort, wenn ich seine Sichtweisen oder Darstellungen manchmal in Frage stellte. Er wollte sich besser verstehen. Aus dem gleichen Grund sprach der Serienmörder Richard Kuklinski lange und offen mit dem Psychiater Park Dietz. Kein reflektierender Mensch, der schon immer wusste, dass er »deutlich anders« ist, würde sich diese Möglichkeit entgehen lassen. Christian machte die Erfahrung, dass meine Deutungen von Dingen, die er über sich erzählte, ihm teilweise neue Sichtweisen auf sich selbst möglich machten.
Verhandeln wir hier gerade? – Dauernd, ohne Ende!
– Mit Psychopathen nach ihren Spielregeln spielen
Die Überschrift stammt aus dem Film »Im Auftrag des Teufels«. Darin beeinflusst der Teufel – grandios gespielt von Al Pacino – in menschlicher Gestalt, als Chef einer extrem erfolgreichen Anwaltskanzlei, alle, die sich näher mit ihm einlassen. Die hohe Kunst der Manipulation, welche hier extrem gut dargestellt wird, ist ein typisches Merkmal psychopathischer Menschen – auch wenn nicht alle diese Kunst gleich gut beherrschen
Ich konnte mit Christian überhaupt nur so weit in meinen Einsichten über ihn kommen, weil ich ihn nicht als Klient im Beruf kennengelernt habe, sondern als Privatperson. In einem beruflichen Kontext wäre ich nicht auf den »Vertrauenstest« eingegangen, den er ab einem gewissen Punkt an mir durchführte. Durch seine Kindheitserlebnisse ist in ihm ein tiefes Misstrauen verwurzelt, jemand, dem er Einblicke in seine wahre Gedanken- und Gefühlswelt gibt, könnte diese vielleicht gegen ihn
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