Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
hat.«
»Du mochtest also die strengeren Regeln in der Schule nicht?«, fasse ich zusammen. »Ja, auf jeden Fall. Man ist dort zu fremdbestimmt.« Christian hatte also schon damals einige Eigenschaften, die man bei psychopathischen Menschen öfter findet: Er wollte sich nicht an Regeln halten, auf die er keine Lust hatte. Stattdessen wollte er das, worauf er Lust hatte, sofort tun. Um sich wohl zu fühlen, brauchte er schon damals Abwechslung. Diese Eigenschaften hat er bis heute.
Anders als die anderen Kinder
– Viele kleine Nadelstiche mit großer Wirkung
Ich frage ihn nach dem Verhältnis zu seinen Mitschülern. Lächelnd antwortet er: »Gut.« Diese Antwort wundert mich, denn aus anderen Gesprächen weiß ich, dass das nicht ganz stimmt. Deshalb hake ich nach: »War es die ganze Schulzeit über gut, oder gab es auch mal Probleme?« »Nö«, erwidert er gelassen. »Gar keine?«, bohre ich weiter nach. »Nicht wirklich.«
Christian ist dieser Punkt offenbar unangenehm. Ich möchte sehen, wie er reagiert, wenn er dem Thema in diesem Gespräch nicht ausweichen kann. Deshalb hake ich konkreter nach: »Du sagtest mal in einem anderen Gespräch, dass du in der Schule jemandem gegenüber richtig ausgerastet bist.« »Ja, das muss ungefähr in der siebten Klasse gewesen sein«, rückt er nun doch mit der Sprache heraus. Ich frage nach dem Grund für seinen Ausraster. Er überlegt kurz und sagt: »Man könnte es als Mobbing oder so was Ähnliches bezeichnen.« Ich möchte nun wissen, warum er gemobbt wurde. Wieder überlegt er kurz, bevor er antwortet: »Wahrscheinlich haben sie das nur gemacht, um es mal zu versuchen. Also einfach nur mal gucken, ob es klappt, jemanden niederzumachen.«
»Wie haben sie das gemacht?«, möchte ich wissen. »Och, mit allem Möglichen. Also eigentlich hab ich natürlich relativ früh und relativ stark mitgekriegt, dass ich massiv anders bin, was Lernen angeht, als der Rest der Klasse. Natürlich war ich damit dann angreifbar. Deshalb bin ich, was das angeht, mittlerweile ziemlich unverwundbar.«
»Du bist also damals ausgerastet, weil sie dich mit deiner Lernschwäche geärgert haben?«, frage ich. Ruhig wie immer antwortet Christian: »Bei dieser Mobbing-Nummer damals kann ich dir nicht genau sagen, was sie alles gesagt haben. Ich erinnere mich nur, dass sie konsequent versucht haben, mich verbal fertigzumachen.« Nach kurzem Überlegen fügt er grinsend hinzu: »Das habe ich dann mit ›nonverbaler Härte‹ zurückgezahlt.«
»Es war also eine Gruppe deiner Mitschüler, die das gemacht hat?«, frage ich. »Ja natürlich, so was kann man nicht alleine machen. Es waren mehrere meiner Mitschüler. Also den Rädelsführer hab ich dann …« Er zögert kurz, bevor er sagt: »Das war quasi die erste Person in meinem Leben, die ich richtig verhauen habe.« Ich frage, wie schwer er den Mitschüler verhauen hat. Lächelnd sagt er: »Och, so schlimm war es nicht, sonst würd’ ich’s gemerkt haben.« Damit meint er, dass er sich selbst nicht dabei verletzt hat.
»Hat dieser Junge danach sofort sein Verhalten dir gegenüber geändert?«, frage ich. Er versucht, mir die Situation zu erklären: »Eigentlich waren der Junge und ich befreundet. Es war also nicht jemand, den ich hasste oder so. Meine damalige Klasse hat als ›Komplettklasse‹ gut funktioniert, da gab es keine Grüppchenbildung. Im Jahr darauf bin ich sitzengeblieben und kam in eine Klasse mit lauter ›Grüppchen‹. Aber die Klasse, in der das mit dem Mobbing passierte, war eigentlich ein Klassenverband, zu dem ich dazugehörte, auch wenn ich eher im Randbereich der Gruppe war. Es gab keinen in der Klasse, der wirklich ein Außenseiter war. Das fand ich eigentlich sehr gut und habe es später in keiner anderen Klassengemeinschaft nochmals so erlebt.«
»Wenn du dich eigentlich von dieser Klasse angenommen fühltest, womit hat das Ärgern denn dann überhaupt angefangen?«, möchte ich wissen. Es wirkt fast, als wolle er das Verhalten seiner Mitschüler rechtfertigen, als er sagt: »Ich denke, es ist einfach jugendlicher Leichtsinn gewesen. Man guckt einfach mal mit irgendwem, wie weit man bei ihm gehen kann. Internes Rangeln, denke ich mal, ist es gewesen.«
Ich frage ihn, ob keiner seiner Mitschüler sich in dieser Situation auf seine Seite gestellt hat. Darüber denkt er eine Weile nach: »Das Problem an der Situation war, dass es keinen zum ›auf einer Seite stehen‹ gab. Es war kein …« Offenbar fällt es ihm
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