Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Weg zu gehen. Ich versuche es mit einer Entschuldigung. Das erscheint mir sinnvoll, da ich in seinen Augen ja definitiv gegen eine unausgesprochene Regel verstoßen habe. Die Entschuldigung kombiniere ich mit einer Erklärung, warum ich seine »Biatch« angeschaut hatte. Dabei versuche ich möglichst, seinen Sprachjargon zu übernehmen, um Sympathie zu wecken.
»Altah, sorry, ich hab deine Biatch nur angeschaut, weil ich dachte, sie wäre in meiner Parallelklasse.« Das Verzerren seines Gesichts deutet darauf hin, dass ich offensichtlich nicht das Recht habe, seine »Biatch« eine »Biatch« zu nennen. Vielleicht empfindet er es auch als beleidigend, dass ich annehme, seine »Biatch« würde zur Schule gehen.
Ich beginne also weitere Optionen abzuwägen, wie einfach aus der Situation zu fliehen oder ihn mit einem Getränk zu bestechen. In vielen Situationen nutze ich ein Set von Verhaltensregeln. Wenn ich mich in einer neuen Situation offensichtlich falsch verhalte, versuche ich, mein Verhaltensrepertoire anzugleichen und mich anzupassen.
Da mir diese Situation in diesem Kontext völlig neu ist, habe ich keine Idee, welches Verhalten jetzt von mir erwartet wird. Ich beschließe, aus der Situation zu verschwinden, drehe mich einfach um und lasse ihn stehen. Er scheint nicht gewillt, mir mein Verhalten durchgehen zu lassen, und packt mich am Arm. Da Kommunikation nicht mehr angebracht erscheint, greife ich nach seinem Handgelenk und drehe es mit einem Ruck herum. Offenbar habe ich damit wieder eine Verhaltensregel gebrochen, da er darauf nicht vorbereitet gewesen zu sein scheint.
Er hat nicht damit gerechnet, dass ich mit Kampfsport Erfahrung habe. Eigentlich bin ich auf folgende weiteren Schritte vorbereitet: Da er meinen rechten Arm gegriffen hat, werde ich ihn mit dem linken Ellenbogen ins Gesicht treffen, sein Handgelenk loslassen und mich umdrehen. Er wird zurücktaumeln, sich vermutlich mit einer Hand das Gesicht halten. Ich werde nachsetzen, Schläge auf den ungedeckten Solarplexus.
Nichts davon passiert. Er lässt mich los, murmelt etwas, was ich aufgrund der Musik nicht verstehe, und verschwindet. Das geht meistens in mir vor, wenn ich mit Menschen zu tun habe: Ich spiele eine Situation wieder und wieder in meinem Kopf durch, erwäge alle möglichen Ausgänge und entscheide mich dann für einen. Normale Menschen tun das nicht – denke ich –, sie handeln intuitiver. Daher können sie einfach tanzen und einen Discoabend genießen. Bei zweihundert Menschen ist es kaum möglich, alle Möglichkeiten zu kalkulieren. Daher ist es in dieser Situation sehr schwer, mein Verhalten anzupassen. Das Ganze wird natürlich erschwert, wenn man die Menschen nicht kennt, die einen umgeben, und daher ihre Reaktionen kaum vorhersagen kann.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir: Meine halbe Stunde ist um, ich habe die abgesprochene Zeit eingehalten. Suche meine Freunde auf. Entschuldige mich damit, ich hätte Stress mit einem Typen gehabt. Ich wolle abhauen, bevor der mich zusammen mit seinen Freunden findet.
22:35 Uhr: Ich stehe draußen auf dem Parkplatz der Disco, genieße die Stille und das Gefühl, wieder alles unter Kontrolle zu haben.
Gespräche auf der Grenzlinie
– Interviews mit nicht-kriminellen Psychopathen
Ich habe das Glück, in meinem Leben sehr vielen Menschen mit ungewöhnlichen – öfter auch »psychopathischen« – Eigenschaften begegnet zu sein. Alexander war einer davon. Was er mir in langen Gesprächen über sich erzählte, fand ich sehr interessant. Außerdem fiel mir auf, dass einiges, was er berichtete, auch auf andere Menschen zutraf, die sich aus unterschiedlichen Gründen und Situationen heraus irgendwann offen mit mir über ihr Leben unterhalten hatten.
Ungewöhnliche Lebensgeschichten und Persönlichkeiten vergesse ich nie. Aussehen und Gesichter kann ich mir nie merken, doch was mir Menschen über sich erzählen, bleibt mir im Gedächtnis. Deshalb kamen mir direkt einige Personen in den Sinn, an die mich Alexander erinnerte und die ich offen auf meine Idee ansprechen konnte. Ich nahm Kontakt mit ihnen auf und fragte sie, ob ich einen Persönlichkeitstest mit ihnen durchführen dürfe. Fast alle stimmten zu, und so stufte ich sie mithilfe der Psychopathie-Checkliste ein.
Alle, die laut dieser Checkliste zwischen 50 und 74 % der psychopathischen Merkmale erfüllten, lud ich zu weiteren Gesprächen ein. Normale Menschen erfüllen höchstens 10 % dieser Merkmale. Meine Interviewpartner, die
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