Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Klasse, er war der Zweitstärkste dort. Wahrscheinlich hat er sich damals auch sehr gewundert, dass ich ihn auf den Boden gefaltet hab.« »Wie erklärst du dir, dass das überhaupt möglich war?«, möchte ich wissen, worauf er ohne zu zögern sagt: »Wille. Ganz einfach. Sitzen die ersten zwei Schläge richtig, ist der Rest …« Er lächelt vielsagend und ergänzt: »Das ist ’ne ganz einfache Nummer, man nutzt den Überraschungseffekt und dann ist es halt wirklich zu machen.«
Mich interessiert, ob Christian sich bei der Schlägerei überhaupt noch im Griff hatte, deshalb frage ich: »Als du diesen Jungen damals verhauen hast, wann hast du damit aufgehört? Wonach hast du entschieden, wie weit du gehst?« Grinsend sagt er: »Na, nachdem nicht mehr viel Gegenreaktion kam. Es ging auch sehr schnell, also es hat nicht lang gedauert. Lass die ganze Sache mal zwanzig bis dreißig Sekunden gedauert haben. Wir waren an unseren Schließfächern. Ich hab ihn vor seinem Schließfach zusammengefaltet und bin gegangen. Während der Stärkste aus der Klasse, der dessen Freund war, mit offenem Mund danebenstand und zugeguckt hat.« Ich frage, warum der Klassenstärkste sich nicht eingemischt hat. »Ich denke, er war total überrascht. In erster Linie wird er sich nicht eingemischt haben, weil er davon ausging, sein Kumpel schafft das schon alleine. Er konnte wohl nicht fassen, dass ich dazu in der Lage war, den anderen so fertigzumachen.«
Auch Alexander hatte während seiner Schulzeit einen sehr heftigen Wutausbruch. Er wurde ebenso wie Christian immer wieder von Mitschülern gehänselt. Den Grund dafür beschrieb er so: »Also ich habe klar in meiner Kindheit und Jugend einiges an Abwertung durch Gleichaltrige hinnehmen müssen. Es war einfach krass zu merken: Alle anderen sind anders als ich. Sie fühlen anders, denken anders und interessieren sich für andere Dinge. Das Problem ist: Ich glaube, Kinder können so was sehen. Seit ich nur noch mit Erwachsenen und kaum noch mit Kindern zu tun habe, ist das nicht mehr ansatzweise so schlimm. Aber Kinder kriegen es mit, wenn jemand ›anders‹ ist. Vielleicht merken Erwachsene das auch, aber sie zeigen es nicht.«
Als er in der Grundschule war, wurde Alexander von einem Mitschüler besonders lange und heftig gehänselt. Irgendwann explodierte seine Wut, und er brach diesem Jungen gezielt den Unterarm. Der Mitschüler ärgerte ihn nie wieder. Doch andere, die ihn in einer Gruppe über Jahre ärgerten, hörten nicht so schnell damit auf. Alexander erzählt: »Damals wurde ich eben relativ viel gehänselt. Das habe ich nie verstanden: Dass die Leute, die mich hänselten, es noch gewagt haben, immer wieder weiterzumachen, obwohl ich sie teilweise deshalb richtig stark verprügelt habe. Wobei es dank meines relativ raschen Körperwachstums nicht besonders lange gedauert hat, bis ich einen von den kleinen Wichsern richtig hart erwischt habe. Danach haben sich alle anderen gar nicht mehr getraut. Da war dann der Punkt: ›Ich schlage dir zwei Mal in den Bauch‹ ungefähr gleichbedeutend mit: ›Wenn ich etwas zu hoch schlage, breche ich dir vielleicht eine Rippe.‹ Als sich die anderen dieses Risikos bewusst wurden, gab es dann ganz klar bessere Hänselopfer als mich.«
Wenn schon anders, dann halt besser als andere
Ich frage Christian, ob ihm sonst noch aufgefallen ist, dass er anders ist als die anderen. Sofort sagt er: »Oh, andauernd.« Dann überlegt er und fährt fort: »Wie mir auffiel, dass ich anders bin … Ich hab die anderen beobachtet und dabei unter anderem gemerkt, dass meine Allgemeinbildung besser war als die meiner Klassenkameraden. Beispielsweise im Biologieunterricht stellten meine Mitschüler manchmal Fragen, deren Antworten mir so einfach erschienen, dass ich die Fragen albern fand. An den Reaktionen der anderen Mitschüler merkte ich, dass die es offenbar auch nicht besser wussten. Dann dachte ich: Es ist also nicht trivial, diese Fragen zu stellen, die anderen sind alle dumm.«
Superhelden oder Superschurken
Menschen, die in ihrer Kindheit merken, dass sie anders sind, und deshalb mit Altersgenossen Probleme haben, müssen Wege finden, damit umzugehen. Die anderen Kinder nutzen ihre Besonderheit als wunden Punkt. Alle meine mittelgradig psychopathischen Interviewpartner berichteten von Erfahrungen dieser Art. Und alle entwickelten die gleiche Methode, damit umzugehen: Sie beschlossen, dass Anderssein auch eine Stärke sein kann.
Alexander, der
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