Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
typisch psychopathische »Kosten-Nutzen-Entscheidung« leicht, seine Freunde einen nach dem anderen aus dem Weg zu räumen.
Wenn Logik die Intuition ersetzt
Für das Misstrauen der Psychopathen gibt es allerdings noch einen weiteren Grund – eine Besonderheit ihres Gehirns. Psychopathische Menschen ersten Ranges – also solche, die insgesamt stark verminderte Gefühle haben – erfassen und gestalten zwischenmenschliche Beziehungen hauptsächlich mit den Teilen des Gehirns, die logisches Verstehen und strategisches Handeln steuern. Normale Menschen dagegen nutzen stärker »gefühlsgeleitete« Hirnbereiche, im Zusammenspiel mit den »logischen« Hirnbereichen.
Die rechte Hirnhälfte ist unter anderem dafür zuständig, den Gesichtsausdruck des Gegenübers unbewusst und schnell richtig zu deuten. Sie löst Gefühle und von diesen geleitete Verhaltensweisen aus. Diese Verhaltensweisen senden wiederum automatisch gefühlsmäßige »Signale« an unser Gegenüber zurück. Das »Programm« der rechten Hirnhälfte sorgt dafür, dass Menschen sich gegenüber anderen Menschen meist »intuitiv« verhalten. Sie denken dabei nicht strategisch – im Gegensatz zu Psychopathen.
Die linke Hirnhälfte wiederum hat unter anderem die Aufgabe, was jemand sagt oder wie er sich verhält, »logisch« zu verstehen und einzuordnen. Außerdem hilft sie uns, Verhaltensregeln, die wir in unserem Leben gelernt haben, richtig zu erfassen und anzuwenden. Das logische, vernunftgeleitete Programm läuft also links ab.
Während das Gehirn normaler Menschen bei jeder zwischenmenschlichen Handlung auf beide Hirnhälften zugreift und die Programme für »Intuition« und »Logik« ineinandergreifen, ist dies bei psychopathischen Menschen ersten Ranges grundlegend anders. Sie nutzen hauptsächlich die linke Hirnhälfte. Das »intuitive« – also gefühlsmäßige – Verstehen und Reagieren auf das Gegenüber ist praktisch lahmgelegt. Auch deshalb haben psychopathische Menschen die »Fähigkeit«, sehr grausam zu sein, wenn sie es wollen. Wenn sie im Gesicht eines anderen Angst, Traurigkeit, Ekel oder Schmerz entdecken, dann löst das bei ihnen kein oder nur sehr wenig intuitives »Mitgefühl« aus.
Der Wert von Informationen
Da Thomas Harris, der Autor des Romans »Das Schweigen der Lämmer«, für seine Bücher offensichtlich gründlich recherchiert hat, wundert es mich nicht, dass auch seine psychopathische Hauptfigur Hannibal Lecter das Prinzip »Quid pro quo« anwendet. Im gleichnamigen Film bietet Lecter der FBI-Agentin Clarice Starling sogar ausdrücklich an: »Quid pro quo. Ich erzähle Ihnen was, Sie erzählen mir etwas.«
Dies tut er nicht einmal im Austausch für persönliche Informationen, sondern »nur« für Informationen, die beim Aufklären eines anderen Kriminalfalls helfen sollen. Er betreibt dies also zum persönlichen Vergnügen, weil er so Macht über die Agentin bekommt. Sein Wissen über sie benutzt er immer wieder, um ihre Gefühle und Verhaltensweisen zu manipulieren. Wie ich schon erwähnte, sind Macht und Kontrolle Psychopathen sehr wichtig. Lecter nutzt das Prinzip »Quid pro quo« also als »psychopathisches Spielchen« zur persönlichen Unterhaltung und um seinen starken Machtdrang zu befriedigen.
Auch im wirklichen Leben sammeln psychopathische Menschen Informationen über ihre Mitmenschen. Je mehr sie über eine Person wissen, desto besser können sie »logisch« auf sie reagieren. Dies wurde auch bei Alexanders Discobesuch deutlich: Für ihn war die Situation unberechenbar, weil ihm sowohl »Informationen über typische, zwischenmenschliche Verhaltensregeln in Diskotheken fehlten als auch über die vielen daran beteiligten Menschen. Dies erzeugte in ihm ein Gefühl von »Kontrollverlust«, was für psychopathische Menschen eine der schlimmsten Empfindungen überhaupt ist.
Ein Wutsturm und die Ruhe danach
Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs möchte ich von Christian wissen, wie das Verhältnis zu den Mitschülern, die ihn geärgert hatten, nach seinem Ausraster war. Sofort sagt er: »Tadellos wie vorher. Es gab keine Revanche. Dieser Junge hat einfach eingesehen, dass das, was er gemacht hat, wohl nicht so seine Sache war.« »Also taten alle so, als sei nichts gewesen?«, frage ich, worauf er antwortet: »Genau.«
Mich interessiert, ob Christian damals davon ausging, stärker zu sein als der andere Junge: »Nee, eigentlich dachte ich, es sei andersrum. Ich war damals der Kleinste und Zierlichste in der
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