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Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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möglich ist, hat einen Grund: Die Insassen sollen lernen, mit anderen Menschen klarzukommen, Probleme gemeinsam und vernünftig zu lösen, einen »normalen« Alltag mit ihnen zu gestalten. Es ist also ein Teil des Therapieprogramms.
    Viele Gefangene fanden es interessant, mich als Praktikantin im Psychologiestudium zu erleben. Sie verhielten sich freundlich, manche eher schüchtern, manche ganz interessiert, sich mit mir zu unterhalten. Irgendwann saß ich an einem Tisch mit mehreren Gefangenen zusammen, die überrascht waren, dass die psychologische Praktikantin in dieser Zeit da ist. Ich sagte, dass mich das Leben der Gefangenen außerhalb ihrer Therapiesitzungen interessierte – der Teil ihres Alltags, den Psychologen sonst nicht mitbekommen.
    Die Gefangenen reagierten sehr positiv. Einige erzählten mir, warum und wie lange sie schon inhaftiert waren. Wie ihr Leben bisher gelaufen war und wie es für sie sei, nun in der Sozialtherapie zu sein. Vor allem jene, die schon länger in der Sozialtherapeutischen Anstalt waren, sprachen recht offen über ihr Leben. Ich wollte wissen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten. Es war für mich faszinierend zu erleben, dass ihr größter Traum der war, einfach irgendwann noch einige Jahre ein »normales« Leben draußen führen zu können. Und mit »können« ist nicht nur die Möglichkeit gemeint, das Gefängnis verlassen zu dürfen.
    Sie äußerten klare Vorstellungen, was sie in den Jahren draußen alles anders würden machen müssen als in der Vergangenheit. Dass alles nicht einfach sein würde. Eine Arbeit zu finden, eine Wohnung irgendwo. Freundschaften aufzubauen. Damit umzugehen, wenn jemand von ihrer Vergangenheit erfährt. Keiner stellte sich vor: »Ich muss nur rauskommen, dann geht’s mir gut und ich kann machen, was ich will.« Ganz im Gegenteil, alle sagten, dass es nicht einfach sein werde, besonders da ihr Leben auch vorher schon nicht einfach war. Deshalb seien sie auch froh darüber, dass sie in der Sozialtherapie lernten, mit sich, ihren Problemen und schwierigen Lebenssituationen anders umzugehen als früher und das Beste aus dem zu machen, was noch möglich sei.
Eine Begegnung zwischen den Welten
    Ein schmächtiger, zurückhaltender Gefangener Ende fünfzig bot an, mir seine Zelle zu zeigen. Das Angebot nahm ich dankend an. Wenn man eine solche kleine Zelle nie persönlich gesehen hat, kann man sich nicht vorstellen, wie es sein muss, darin auf Jahre eingesperrt zu sein.
    Während ich mich vor seiner Zelle mit ihm unterhielt, erzählte der Gefangene mir, er habe vor dreißig Jahren mehrere Frauen brutal vergewaltigt. Ja, das könne man sich kaum vorstellen, wenn man ihn jetzt – dünn und körperlich vorzeitig gealtert – so sehe. Ich reagierte nicht erschrocken oder entsetzt, sondern fragte ihn, warum er das getan hatte. So erzählte er mir von seinem Leben, welche psychischen Probleme er nach einer – nicht überraschend – schwierigen Kindheit entwickelt hatte. Damals, als junger Mann, hatte er überhaupt nicht begriffen, was mit ihm los war. Die Taten beging er immer wieder spontan. Seine Geschichte ist sehr typisch. Viele solche Täter wissen vor einer Therapie nicht, warum sie irgendwie »kaputt« sind und warum sie solche Dinge tun.
    Weil er ein gefährlicher Wiederholungstäter war, sei er in »Sicherungsverwahrung« gekommen, erzählte er. Ob er je wieder in Freiheit kommen würde, wusste er nicht. Er sei inzwischen – nach einer langen Therapie – für niemanden mehr gefährlich, da sei er sich sicher. Das konnte er auch sehr vernünftig begründen. Trotzdem verstand er, warum er in Sicherungsverwahrung gekommen war und warum Gutachter immer wieder sehr genau prüfen mussten, wie er sich über die Jahre entwickelt hatte. Es sei auch richtig gewesen, andere Menschen auf diese Art vor ihm zu schützen. Das verstehe er. Er fühlte sich in keiner Weise ungerecht behandelt.
    Nun wurde er langsam ein alter Mann. Sein einziger Wunsch war es, irgendwann noch die letzten Jahre seines Lebens in Freiheit verbringen zu dürfen. Ich fragte ihn, was er gerne noch erleben würde. Er sagte: »Ich fände es einfach sehr schön, wenn ich irgendwann an einem sonnigen Tag spazieren gehen könnte und mir ab und zu einen Film im Kino ansehen.« Die vielen Jahre in Haft (immerhin die Hälfte seines Lebens) hätten ihn sehr verändert. Er war sehr froh über die Möglichkeit einer langen Therapie. Dabei habe er erst langsam gelernt zu verstehen, was mit ihm los

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