Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
sie selbst zurück. Das Kind macht es traurig, dass sein Verhalten seine Mutter wütend und traurig gemacht hat. Um diese emotionale Rückkoppelung zu vermeiden, lernen Menschen, sich so zu verhalten, dass sie die Gefühle anderer möglichst nicht verletzen.
Außerdem haben Kinder normalerweise Angst davor, von den Eltern für das Übertreten von Regeln bestraft zu werden. Das ist ein weiterer Grund, warum sie lernen, sich an diese Regeln zu halten. Würde ein Kind weder Angst vor der Strafe der Mutter haben noch irgendetwas dabei empfinden, wenn es seine Mutter traurig macht, warum sollte es dann lernen, Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen und sich an Regeln zu halten?
Diese schon bei der Geburt angelegten, unwillkürlichen Gefühle sind also notwendig, damit Menschen lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich aufeinander zu verlassen und mit anderen langfristig zusammenzuleben. Jeder Mensch, der von sich selbst glaubt, ein »guter« Mensch zu sein, sollte sich einmal fragen: Was wäre aus mir geworden, wenn ich die unwillkürlichen Gefühle »Mitgefühl« und »Schuldgefühl« niemals empfunden hätte? Welche Regeln hätte ich eingehalten und zu welchen »bösen« Taten wäre ich dann imstande gewesen?
Mitgefühl und Schuldgefühl sorgen nicht nur dafür, dass normale Menschen lernen, anderen möglichst nicht zu schaden, sondern sie sind auch eine Motivation, andere zu unterstützen. Um eigene unangenehme Gefühle zu vermeiden, lernen normale Menschen, anderen zu helfen, auch wenn sie selbst keinen direkten Nutzen davon haben. Wenn gute Freunde oder nahe Verwandte dringend Hilfe brauchen, fühlen sich die meisten daher verpflichtet, diesen schnell und, wenn nötig, sogar mit hohem Aufwand zu helfen. Würden sie dies nicht tun, würden sie sich unwillkürlich schuldig fühlen. Deshalb nehmen sie dafür im Zweifelsfall auch große Opfer auf sich.
So werden normale Menschen in ihrem Empfinden, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, geformt. Da kriminelle Psychopathen weder Mitgefühl noch Schuldgefühl kennen, haben sie auch keinen unmittelbaren Grund, sich an gesellschaftliche Regeln zu halten und auf andere Rücksicht zu nehmen. Damit fehlen ihnen die Grundbausteine, die das Gewissen normaler Menschen ausmachen. Ohne Gewissen empfinden sie keine Verpflichtung, moralische Regeln als bindend anzusehen. Prichards Begriff »moralischer Irrsinn« ist daher durchaus zutreffend für ihren Zustand.
Wie ein Blatt im Wind
Der US-amerikanische Psychiater Hervey Cleckley fasste als erster, in seinem 1941 veröffentlichten Buch »The Mask of Sanity« (»Die Maske der psychischen Gesundheit«), eine Sammlung von Fallbeispielen psychopathischer Menschen zusammen. Cleckley leitete aus den gemeinsamen, auffälligen Eigenschaften von 13 Männern und zwei Frauen eine Merkmalsliste ab, die zur Basis der modernen wissenschaftlichen Beschreibung von Psychopathen wurde. Da die von ihm untersuchten Menschen mit psychopathischen Eigenschaften aber nicht alle straffällig geworden waren, berücksichtigte er in seiner Merkmalsliste hauptsächlich Eigenschaften, die sich nicht eindeutig auf kriminelle Verhaltensweisen beziehen.
Ein Psychopath, der alle Merkmale nach Cleckley in sich vereint, lässt sich so beschreiben:
Er ist mittelmäßig bis hochintelligent. Anderen Menschen gegenüber kann er sehr charmant und einnehmend sein, unter anderem weil er sie mit schnellen und klug wirkenden Antworten von seinen Fähigkeiten überzeugt. Er nimmt die jeweilige Situation realistisch, ohne auffällige Verzerrungen wahr, weshalb ihn andere Menschen auf den ersten Blick als sachlich und vernünftig einschätzen. Da er weder ängstlich noch nervös wird, wirkt er sehr gelassen und strahlt unerschütterliche Ruhe aus.
Seine Mitmenschen sind daher verwirrt, wenn sie bemerken, dass er sehr unzuverlässig in vielen Dingen ist und scheinbar kein Pflichtgefühl besitzt. Egal wie sehr er andere enttäuscht oder verletzt, er scheint sich nicht aufrichtig dafür zu schämen oder schuldig zu fühlen. Menschen, die sich ihm gegenüber vertrauensvoll, freundlich und hilfsbereit verhalten, merken früher oder später, dass dies nicht auf Gegenseitigkeit beruht, dass er sich unaufrichtig oder sogar hinterhältig verhält.
Im Kontrast zu der von ihm ausgestrahlten Ruhe steht sein unzuverlässiges und unvorhersehbares Verhalten. Er scheint sich von neuen Situationen ungewöhnlich stark beeinflussen zu lassen und dann spontan das zu
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