Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
einem modernen Rechtsstaat mit schweren Straftätern umzugehen: Jenen, die erfolgreich therapierbar sind, ein Leben nach ihrer Haft zu ermöglichen, und jene, die nicht therapierbar sind, dauerhaft einzusperren.
Dies hat auch den Nutzen, dass wir über die Ursachen und die frühzeitige Bekämpfung schwerer Verbrechen immer mehr lernen können, wenn wir mit diesen Tätern wissenschaftlich arbeiten. Diese Arbeit verhindert also sogar Straftaten, weil das durch sie erlangte Wissen für die Entwicklung von Projekten nutzbar ist, die Taten vorbeugen.
Ein sehr sinnvolles solches Projekt wurde in Deutschland durch Werbung über Plakate und im Fernsehen bekannt. Es nennt sich: »Kein Täter werden«. Es bietet ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und deshalb therapeutische Hilfe suchen. Nachdem dieses Projekt 2005 in Berlin ins Leben gerufen wurde, erreichte die Mitarbeiter eine überwältigende Zahl von Anfragen. Menschen aus ganz Deutschland waren bereit, regelmäßig lange Reisen auf sich zu nehmen, wenn sie durch das Projekt nur Hilfe bekommen konnten. Die vielen bundesweiten Anfragen führten dazu, dass neben Berlin weitere Standorte eingerichtet wurden. Inzwischen können Betroffene auch in Kiel, Hamburg, Hannover, Leipzig, Regensburg und Stralsund Hilfe bekommen. Dass dieses Projekt Taten verhindern kann, weil potenzielle Täter mit ihrer Neigung umzugehen lernen, ohne anderen gefährlich zu werden, zweifelt niemand mehr ernsthaft an.
KAPITEL 4
DIE WELT ECHTER PSYCHOPATHEN:
EIN ENDLOSER MASKENBALL
Wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
(Friedrich Nietzsche)
Gewissensirrsinn
Ende des achtzehnten Jahrhunderts fiel dem französischen Psychiater Philippe Pinel eine besondere Gruppe von Verbrechern auf. Diese unterschieden sich von anderen ihrer Art dadurch, dass sie auffällig hemmungs- und gewissenlos waren. Pinel nannte sie allerdings nicht Psychopathen, sondern schrieb lediglich, sie seien dem Wahnsinn verfallen.
In den folgenden Jahrhunderten wurden die Verhaltensweisen, die heutzutage als »psychopathisch« gelten, von verschiedenen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Erklärungsversuchen beschrieben. Ein Beispiel hierfür ist die Schrift des Engländers James Cowles Prichard, der die Störung solch auffälliger Straftäter mit dem Begriff »moral insanity«, also »moralischer Irrsinn«, zu erklären versuchte. Dieser Begriff beschreibt ein Kernproblem der »Psychopathie« sehr gut: Die Normen und Werte krimineller Psychopathen unterscheiden sich deutlich von denen der meisten anderen, denn ihnen fehlt etwas, das »normale« Menschen menschlich macht: das Gewissen.
In der Welt der Psychopathen ist »gut«, was ihnen persönlich nützt, und »schlecht«, was ihnen schadet. Die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen sind ihnen vollkommen egal, außer sie können diese gezielt beeinflussen, um etwas zu bekommen, das sie wollen. Da sie weder Mitgefühl noch Schuldgefühl haben, verhalten sie sich immer wieder kaltblütig und grausam.
Dieses Verhalten wurde in allen Zeiten und Kulturen als unmoralisch angesehen, da es die Zusammenarbeit, Unterstützung und Zuverlässigkeit innerhalb einer Gruppe unmöglich macht. Menschen waren in ihrer Entwicklungsgeschichte aber seit jeher darauf angewiesen, zusammenzuleben. Deshalb setzten sich angeborene Eigenschaften durch, die das erzeugen, was wir Gewissen nennen. Das Gewissen ist im Grunde nichts anderes als ein »innerer Polizist«, der normal fühlende Menschen daran erinnert, was nach den Regeln ihrer Gruppe richtig und was falsch ist, und sie mit negativen Gefühlen bestraft, wenn sie gegen diese Regeln verstoßen.
Normal fühlende, denkende und handelnde Menschen sind also von Geburt an mit unwillkürlich auftretenden Gefühlen ausgestattet, die sich angenehm oder unangenehm anfühlen, je nachdem, welche Folgen ihr Verhalten hat. Dies ist für die meisten derart selbstverständlich, dass sie sich kaum vorstellen können, wie sie sich entwickelt hätten, wenn ihnen ihr Gewissen gefehlt hätte.
Zerbricht ein kleines Kind eine Vase und die Mutter reagiert wütend oder traurig, dann fühlt sich das normale Kind dadurch schlecht. Deshalb wird es vermeiden, nochmals eine Vase kaputt zu machen. Auf normal fühlende Menschen wirken unangenehme Gefühle, die sie unbeabsichtigt bei anderen erzeugen, auf
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