Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
dafür aus meinem Berufsfeld, vor denen ich menschlich großen Respekt habe, sind die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein und die Psychologin Marsha Linehan. Spielrein kam 1904, als sie neunzehn Jahre alt war, wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Nach ihrer Entlassung wurde sie bis 1909 mit der damals noch neuen Methode der Psychoanalyse therapiert. Sie studierte Medizin, arbeitete anschließend als Therapeutin, entwickelte psychologische Theorien weiter und veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel zu psychoanalytischen Themen.
Auch die 1943 geborene Psychologin Marsha Linehan arbeitet unter anderem als Therapeutin, Forscherin und Autorin. In der Wissenschaftswelt wurde sie durch die Entwicklung einer völlig neuen Behandlungsmethode bekannt, der »Dialektisch-Behavioralen Therapie«. Was lange Zeit kaum jemand wusste: 1961 kam sie für zwei Jahre mit der Fehldiagnose Schizophrenie in eine Psychiatrie. Dass sie tatsächlich an der Borderline-Störung litt, wurde nicht erkannt, da man damals noch verhältnismäßig wenig darüber wusste. Später studierte sie Psychologie und spezialisierte sich auf die Behandlung von Patienten, die unter den gleichen Symptomen litten wie sie selbst. Es ist kein Zufall, dass gerade sie die bis heute wirksamste Behandlungsmethode für ihre eigene Störung entwickelte.
2011 hielt Marsha Linehan einen Vortrag in ebender Psychiatrie, wo sie genau fünfzig Jahre zuvor als Patientin gewesen war. Bei dieser Gelegenheit bekannte sie sich zum ersten Mal öffentlich dazu, selbst an Borderline zu leiden. Einige Tage später machte sie ihre Vergangenheit in einem Interview mit der Zeitung »New York Times« öffentlich. Sie beschrieb darin mit eindrücklichen Worten, was sie motiviert hatte, nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zu helfen: »Ich war in der Hölle und ich machte ein Versprechen: Wenn ich hier herausfinde, werde ich wiederkommen und andere hier herausholen.«
Erstaunlich viele Menschen mit ungewöhnlichen Eigenschaften und Persönlichkeiten – egal wie ausgeprägt – werden Wissenschaftler, Erfinder, Philosophen, Künstler, Entdecker, Politiker oder finden sonst einen sinnvollen, nützlichen Weg, ihre Besonderheiten einzusetzen. Aus diesem Grunde ist mir die Figur »Sherlock Holmes« – sowohl in den Romanen als auch in der aktuellen BBC-Fernsehserie – so sympathisch. Holmes hat ein deutlich anderes Gefühlsleben als die meisten Menschen, er braucht viel Abwechslung, um sich wohlzufühlen, und liebt es, Dinge sachlich zu betrachten und zu durchdringen. Diese Eigenschaften nutzt er für eine selbstbestimmte, kreative und äußerst sinnvolle Tätigkeit. Von daher empfinde ich eine gewisse Seelenverwandtschaft mit dieser Figur.
Die Autorin 2012 im Sherlock Holmes Museum in London.
Die Eigenschaften eines Menschen setzen ihm zwar Grenzen. Doch innerhalb dieser Grenzen gibt es einen Spielraum, der »freier Wille« genannt wird. Dieser Spielraum ist bei manchen größer als bei anderen. Manchmal verschwindet er auch völlig, beispielsweise, wenn jemand Wahnvorstellungen hat, also die Wirklichkeit nicht mehr als solche erkennen kann. Auch wenn ein Mensch in einen emotionalen Ausnahmezustand gerät, sich also nicht mehr beherrschen kann, ist sein freier Wille vorübergehend außer Kraft gesetzt. Menschen, die in diesem Zustand Straftaten begehen, werden von Juristen zu Recht als »vermindert schuldfähig« oder »schuldunfähig« eingestuft. Doch die meisten verfügen ihr Leben lang über ihren persönlichen Willensspielraum. Jeder Mensch kann lernen, ihn bewusst zu gebrauchen. Jeder hat die Möglichkeit zu entscheiden, ob er auch seine »Fehler und Schwächen« zum Nutzen für sich und andere Menschen einsetzen will.
Bei einigen der öffentlichen Vorträge, die ich mit dem Kriminalbiologen Mark Benecke zusammen hielt, kamen Jugendliche zwischen elf und sechzehn Jahren zu uns. Sie wollten ein Buch signieren lassen oder ein Foto machen – meist schüchterne Gestalten, in Begleitung von Verwandten oder anderen Erwachsenen, aber nie mit Freunden. Derart junge Zuhörer kommen wegen der »harten« Themen nur selten in unsere Vorträge. Diese aber zeigten ein so großes Interesse für Kriminalfälle, weil auch sie selbst auf die eine oder andere Art »anders« waren.
Meist waren sie erstaunt, wenn ich irgendwann sagte: »Die anderen in deinem Alter finden dein Interesse für solche Themen komisch, oder?« Zustimmendes
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