Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt
Handwerkskammer anzugehören – warum?
Das abzuschaffen klingt aber reichlich neoliberal.
Ich finde, es klingt vernünftig.
Willy Brandt kapitulierte 1974 vor dem Streik der ÖTV . Zwölf Prozent mehr Lohn bekamen die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst. Erinnern Sie sich an den Streik?
Ich erinnere mich deutlich. Zu der Zeit war ich als Finanzminister entsetzt darüber, dass Kanzler Brandt und Innenminister Genscher eine exorbitante Lohnforderung der damaligen ÖTV, heute Verdi, akzeptiert haben. Ein Jahr später wollte der Vorsitzende der ÖTV dasselbe mit mir veranstalten. Er drohte, in ganz Deutschland die Mülltonnen ungeleert auf der Straße stehen zu lassen. Da habe ich zu ihm gesagt: »Heinz, daran kann ich dich nicht hindern. Aber dann geh ich ins Fernsehen und erkläre dem Volk, dass du als Oberschwein für die Schweinerei auf den Straßen verantwortlich bist. Dann wollen wir mal sehen, wer sich durchsetzt.«
Und – wer hat sich dann durchgesetzt?
Ich habe die Forderung abgelehnt und bin damit auch durchgekommen. Solche völlig überzogenen Forderungen sind danach nicht mehr erhoben worden.
Anders als heute standen die Gewerkschaftler damals meistens der SPD nahe.
Das ist richtig.
Bedauern Sie, dass die Bindungen lockerer geworden sind?
Das ist zwangsläufig.
Halten Sie Streiks in einer globalisierten Weltwirtschaft noch für zeitgemäß?
Streiks wird es weiterhin geben, eines Tages auch in China.
Ist das Argument der Gewerkschaften, mit steigenden Löhnen nehme auch die Kaufkraft zu, für Sie nicht einleuchtend?
Jedenfalls darf der Lohnanstieg keine Preisinflation auslösen. Nehmen Sie die von Ihnen genannten Lokomotivführer: Wenn sie die Lohnforderung von 30 Prozent hätten durchsetzen können, dann wäre natürlich die Kaufkraft der Lokomotivführer gestiegen. Aber die Auswirkung auf die Kaufkraft von beinahe 40 Millionen Erwerbstätigen wäre wegen steigender Fahrkartenpreise negativ gewesen.
Sind Sie selbst Mitglied einer Gewerkschaft gewesen?
Ich bin immer noch Mitglied der ÖTV, heute umbenannt in Verdi.
Zahlen Sie auch Mitgliedsbeiträge?
Inzwischen zahle ich Rentnerbeiträge.
15. Mai 2008
[ Inhalt ]
»Ich habe mich nie als
Rentner gefühlt«
Über das Alter 1
Lieber Herr Schmidt, als was fühlen Sie sich eigentlich: Sind Sie Rentner, Pensionist – oder berufstätig?
Ich habe mich nie als Rentner oder Pensionist gefühlt.
Sie haben ja auch immer weitergearbeitet: Weil Sie finden, dass es schon genug Rentner gibt?
Wenn wir jetzt über Rentner reden wollen, dann müssen wir weit ausholen. Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch dazu reicht.
Gut, dann machen wir zwei Folgen daraus: Was ist also mit den Rentnern?
Wir haben über 20 Millionen Rentner in Deutschland; da habe ich die Pensionisten des Staates – die Polizeibeamten und Richter, die ehemaligen Soldaten und Politiker – noch nicht mitgezählt. Mehr als 25 Prozent der Gesellschaft leben von staatlichen Renten und Pensionen. Das ist den meisten Menschen gar nicht bewusst.
Das war so auch nie vorausgesagt worden.
Vor 50 Jahren musste die Gesellschaft nur zehn Prozent Alte miternähren – ganz zu schweigen von der Zeit, in der ich geboren wurde, da gab es noch die klassische Alterspyramide (fängt an zu zeichnen).
Ich sehe jetzt neben der Pyramide ein Gebilde, halb Baum, halb Pilz.
Heute eher ein Baum. Zu den vielen Alten kommen noch jene Deutschen zwischen 20 und 60 Jahren hinzu, die nicht arbeiten. Nur knapp die Hälfte der Nation ist erwerbstätig. Das heißt: Der Stamm jener, die für die Renten aufkommen, ist dünn geworden.
Geht es den Rentnern in Deutschland nach Ihrer Einschätzung heute gut?
Es geht ihnen besser, als es ihnen früher jemals gegangen ist. Das ist aber etwas anderes, als zu sagen, es gehe ihnen allen gut. Wir werden viel älter als früher; ich bin zum Beispiel älter, als meine Eltern und meine Großeltern geworden sind. Bei der Bismarck’schen Invalidenversicherung von 1889 wurde die erste Invalidenrente mit dem siebzigsten Geburtstag ausgezahlt. Also brauchte man fast nichts auszuzahlen, denn bis dahin waren die meisten Männer schon tot. Das galt bis 1916: Da wollte man das Volk in Kriegsstimmung halten, deshalb wurde das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre gesenkt. Theoretisch gilt das heute noch; tatsächlich aber gehen die Leute im Durchschnitt bereits mit knapp 61 Jahren in Rente – und die wird dann 17 Jahre lang gezahlt.
Kann man unser Rentensystem überhaupt noch
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