Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt
Schmidt, können Sie sich einen Tag ohne Zeitunglesen vorstellen?
Könnte ich mir vorstellen, würde ich aber nicht für erstrebenswert halten, weil ich den Überblick über die Welt verlieren würde. Zurzeit lese ich immer noch bis zu zehn Zeitungen, jeden Tag und am Stück.
Welche sind Ihre liebsten?
Die Herald Tribune und die englische Financial Times .
Lesen Sie eine deutsche Zeitung besonders gerne?
Ich lese sie nicht gern oder ungern, sondern ich sehe sie durch. Dazu gehören die Süddeutsche Zeitung , die Welt , die FAZ und natürlich unsere eigene Zeitung.
Wenn Sie am Freitag in die Politikkonferenz kommen, dann haben Sie immer einzelne Seiten der ZEIT dabei, und viele Zeilen sind mit gelbem Stift markiert. Machen Sie das selbst?
Nein, das macht eine Mitarbeiterin. Das bedeutet: Ich soll das lesen – tue ich meistens auch.
Sie haben’s gut! Nutzen Sie auch das Radio?
Nein.
Politische Fernsehsendungen?
Auch nicht.
Nicht mal die Tagesschau ?
Brauche ich nicht. Ich lese das am nächsten Morgen in der Zeitung.
Aber manchmal zappen Sie nachts durchs Fernsehprogramm!
Ja – es endet meistens beim Fußball.
Sie schimpfen oft über »psychologisierende Stücke«. Was meinen Sie damit?
Wenn immer wieder versucht wird, die Seele des Politikers A oder der Politikerin B zu analysieren und was in ihr vorgeht. Das erinnert mich zu sehr an Sigmund Freud. Psychologie ist eine ganz interessante Disziplin, aber sie reicht nicht, um Politik zu erklären.
Sie haben meist schroff reagiert, wenn das einer bei Ihnen versucht hat.
Ja, das ist wohl richtig. Ich habe sie abgeschreckt.
Haben Sie Reportagen von Egon Erwin Kisch gelesen?
Ich weiß, dass es ihn gab, und ich weiß, was er für eine Rolle gespielt hat, aber das war in der Weimarer Zeit – die ging zu Ende, als ich 14 war.
Die großen Porträts von Hans Ulrich Kempski, die politischen Reportagen?
Ich sprach vorhin von der Süddeutschen , da ist Kempski für mich wichtig gewesen. Aber auch Hans Reiser und Franz Thoma.
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie sich Henri Nannen vergegenwärtigen?
Ich habe Henri Nannen gut gekannt. Er hieß in seiner eigenen Redaktion Sir Henri …
War er eine imposante Erscheinung?
Ja, ein großer Mann, die äußere Erscheinung ähnlich wie Curd Jürgens.
Sie wollen sagen: Die Frauen mochten ihn?
Richtig. Dazu hatte er einen scharfen Blick, der ihn aber nicht davor bewahrt hat, bisweilen übers Ziel hinauszuschießen. Er ist auch mal auf die gefälschten Hitler-Tagebücher reingefallen. Aber insgesamt war er ein fabelhafter Blattmacher, ein Mann mit großem journalistisch-politischem Instinkt.
Lernt man als Politiker auch, Journalisten zu verachten?
Nicht Journalisten als Gattung, aber einzelne schon, ja. Insbesondere solche, die in unfairer Weise um des Aufsehens willen Zitate verbiegen, aus dem Zusammenhang ziehen und ihnen eine andere Bedeutung geben. Solche Journalisten missfallen mir zutiefst.
Das Werk dieser Leute ist aber auch schnell wieder vergessen.
Ich würde wünschen, dass Sie recht haben.
8. Mai 2008
[ Inhalt ]
Eines Tages streiken
sie auch in China
Über Gewerkschaftsmacht
Lieber Herr Schmidt, mal sind die Lokführer im Ausstand, mal streiken die Briefträger, mal stehen die städtischen Busse still – gewöhnen sich ausgerechnet die Deutschen das Streiken an?
Wenn ich es richtig weiß, wird pro Kopf oder pro Arbeitsstunde in Deutschland deutlich weniger gestreikt als in Frankreich, Italien oder Belgien. Deswegen würde ich nicht von einer neuen Angewohnheit sprechen.
Aber die Bereitschaft zum Streik scheint größer geworden: vielleicht weil die Menschen das Gefühl haben, dass es in Deutschland ungerechter zugeht als früher.
Fast überall in Westeuropa verlieren die Gewerkschaften etwas an Bedeutung. Bei uns hat das dazu geführt, dass sich mehrere kleine Gewerkschaften zu einigen großen zusammengeschlossen haben. Auf der anderen Seite haben wir starke Arbeitgeberverbände. Wenn beide Seiten einen Tarifvertrag abschließen, wird er oft anschließend von Staats wegen für allgemein verbindlich erklärt – auch für Unternehmen und Belegschaften, die weder dem Arbeitgeberverband noch der Gewerkschaft angehören; das wird dann ein duopolistisches Zwangskartell.
Müsste man das überwinden?
Ich bin dagegen, dass der Staat private Verbände mit quasistaatlicher Macht ausstattet. Wenn Sie etwa einen Friseurladen aufmachen, werden Sie von Gesetzes wegen gezwungen, der Innung und der
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