Auf einmal ist Hoffnung
Armführung, ein sanfter Sprung, sie erlebte alles wie in Trance und wußte, daß sie schlecht war.
Dann eine schnelle Bewegungsfolge, eine Sprungvariation, und auf einmal hatte sie ihren Körper unter Kontrolle. Eine Pirouette, das Adagio, eine rhythmische Schrittkombination, dann der erste weite Sprung, sie tanzte wie entfesselt, war eine Chiarina voller Leidenschaft und ausgereiftem Können. Ein Emporschnellen, ein Sprung, und noch einer und noch einer, sie vergaß ihre Umgebung und tanzte nur noch für sich allein.
Sie fühlte sich schwerelos, wie von Wolken getragen, und genoß es, auf der Probenbühne der Met einem Kenner wie Chester Wilson vorzutanzen.
Zum Finale die Fouettés, und sie drehte sich von Schwung zu Schwung ausgelassener in einen Rausch hinein, der kein Ende nehmen wollte.
Der Stop.
Sie stand voll konzentriert und bewegungslos.
Dann ging sie in die halbdunkle Gasse ab.
Sie hatte sich vollkommen verausgabt. Ihr Atem ging stoßweise. Über die Augen lief ihr der Schweiß. Sie war allein. Sie wollte sich das Gesicht und den Nacken abtrocknen, aber ihre Tasche lag unten auf ihrem Platz. Sie redete sich ein, daß ihr auch ein ›No‹ nichts anhaben würde und daß es ihr schon genügt hatte, einmal hier getanzt zu haben.
»Jennifer.« Chester Wilsons Stimme drang zu ihr herauf.
Sie trat aus der Gasse, hielt sich die Hand vor die Augen, um von den Schweinwerfern nicht geblendet zu werden, und suchte unten Wilson. Er glich in seiner schlanken, durchtrainierten Statur wie in seiner menschlichen Art Igor. Nur war er gut dreißig Jahre jünger als dieser und trug eine randlose Brille.
»Es ist allright, Jennifer«, wiederholte er aus dem halbdunklen Raum, »warte bitte unten.«
Sie ging zurück zu ihrem Platz und setzte sich wieder neben Igor. Sie war erhitzt, atmete heftig, und über ihr Gesicht liefen schmale Rinnsale von Schweiß. Ihr Blick zu Igor drückte eine stumme Frage aus.
»Du warst gut«, beantwortete er sie leise, dann reichte er Jennifer wortlos ihr Handtuch.
Das Warten dauerte gut zehn Minuten und wurde ihr zur Qual. »Die Zweiundzwanzig war einfach nicht zu übertreffen.« Es klang nach Zweckpessimismus.
»Du warst so gut wie nie zuvor«, machte Igor ihr Mut. Endlich war es soweit. Über den Lautsprecher drang wieder Jims weiche Stimme: »Die Zweiundzwanzig bitte zum Office.«
Die Zweiundzwanzig! durchschoß es Jennifer, und obwohl sie sich eingeredet hatte, daß sie gegen die Konkurrentin keine Chancen haben würde, brach für sie eine Welt zusammen. Sie suchte Igors Blick, und er sah sie warmherzig an. Dann legte er ihr den Mantel um die Schultern, nahm ihre Hand und hielt sie fest.
Sie schloß die Augen, als könnte sie auf diese Weise das Geschehen wie einen bösen Spuk vertreiben, und hatte das Gefühl, ihr Herzschlag setze aus.
Doch dann war Jims Stimme noch einmal zu hören. Er räusperte sich nachdrücklich und verbesserte sich: »Die Zweiundzwanzig und natürlich auch die Dreiundzwanzig bitte zum Office.« Es klang lässig, als wäre diese Ankündigung so selbstverständlich, daß es darüber keinen Zweifel gab.
Jennifer war wie elektrisiert. Sie starrte auf Igor und brachte kein Wort heraus.
»Habe ich nicht gesagt, du warst gut?« Er lächelte sie an.
Sie hörte nicht hin. »Was hat das zu bedeuten?«
»Am besten ist, wir holen uns die Antwort im Büro«, stellte Igor nüchtern fest und umklammerte seinen Stock, als Zeichen zum Aufbruch.
Wenig später standen sie im Büro Chester Wilson gegenüber. Die Kandidatin mit der Nummer zweiundzwanzig war schon anwesend, eine grazile Dunkelhaarige mit gewinnendem Lächeln.
»Chet, brauchst du zwei?« wandte sich Igor scherzhaft an Wilson.
Wilson blieb ernst. »Ja. Die Dreiundzwanzig als erste Besetzung und die Zweiundzwanzig als zweite.«
»Heißt das, ich bin …?« Jennifers Herzschlag stockte kurz, und die Stimme gehorchte ihr nicht mehr.
»Ja, das heißt es«, sagte Wilson kurz angebunden, »wir sehen uns morgen zu einer Stellprobe. Danke, Jennifer.«
Sie war entlassen.
Von neuem zeigte sie Nerven. Sie schulterte ihre Tasche und schwankte. Ihre Beine zitterten. Die Ohren dröhnten. Sie konnte nicht mehr klar denken.
Als sie am Lincoln Center den großen, freien Platz überquerten, blieb Igor vor dem Brunnen kurz stehen. »Gratuliere. Ich habe immer an dich geglaubt, Jenny. Und ich weiß, daß du jetzt deinen Weg machen wirst.« Dann gab er ihr einen kollegialen Kuß auf die Wange.
»Danke, Igor.« Sie
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