Auf ewig und einen Tag - Roman
noch?«
Ich musterte ihr Gesicht und antwortete dann: »Manchmal. Ein bisschen. Ich versuch’s zu vermeiden.« Die Nacht zuvor hatte ich geträumt, ich sei am Strand entlanggewatet, die Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt, mit einer roten Plastikangel in der Hand. Und der Haken verfing sich in seinem Mund, zerrte ihn an die Oberfläche, und sein Gesicht war ganz aufgedunsen, seine Lippen blau und mit Pusteln aus faulendem Fleisch bedeckt.
»Er treibt dort«, sagte sie. »Friedlich, weißt du. Als würde er sich sonnen oder in die Sterne schauen. Und er fängt an …« Sie stieß ein meckerndes Lachen aus. »Er liegt da und fängt an, die verdammte Unabhängigkeitserklärung zu rezitieren. Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind … «
Ich saß da, den Blick auf die Wand gerichtet. Ich konnte sie nicht ansehen.
»… dass sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind . Weißt du, dass ich das ganze verdammte Ding auswendig kann?«
»Woher hast du von der Vergewaltigung gewusst, Eve?«
Sie schwieg einen Moment, dann zog sie die Knie an die Brust. »Er hat es mir gesagt. Als Warnung, denke ich. Er hat mir am ersten Tag, als wir zusammen waren, davon erzählt. Er sagte, er könne nicht fassen, dass er es tatsächlich zulasse, sich in mich zu verlieben, und wie riskant das sei.« Sie lachte kurz auf, ein Geräusch wie das Spalten von Holz. »Er sagte, das letzte Mal, als er sich erlaubte, einem Mädchen nahezukommen, rein freundschaftlich, sagte er, habe sie ihn der Vergewaltigung bezichtigt.«
Ich sah sie mit starrem Blick an.
Sie wischte sich mit den Handflächen über die Augen. »Und schlau, wie ich bin, dachte ich, er sagt die Wahrheit. Und zum Teil versuch ich immer noch, es mir rational zu erklären, denn wenn es Vergewaltigung war, was hat er dann mit mir gemacht? Das verdammte Arschloch hat mein Leben ruiniert - ist dir das klar?« Sie drehte das Gesicht zur Decke. »Du verdammtes dreckiges Arschloch!«
Ich strich ihr das Haar hinter die Ohren, schob ihren Pony zur Seite und küsste sie auf die Stirn. Als sie nicht reagierte,
nahm ich den Papierstapel aus dem Karton. »Ich frage mich, ob es eine Art Rekord ist, zehn Jahre mit dem Schreiben eines Kinderbuchs zu verbringen. Du hast seit unserer Kindheit auch nichts mehr davon gehört, stimmt’s?«
»Er ist fertig damit«, antwortete sie. Ihre Worte klangen irgendwie abgehackt, als seien es Teile eines anderen Gedankenstroms in ihrem Kopf.
»Wir werden es lesen, und es wird sein, als kehrten wir in die Vergangenheit zurück. Du erinnerst dich doch noch an die Tage auf der Veranda? Wir beide saßen da, hörten zu, und alles andere versank um uns herum.«
Eve grinste schief. »Und wenn Justin fort war, spielten wir alles nach. Die Verandapfosten waren Prinzen. Wir küssten die Verandapfosten.«
»Luder in spe. Aber für mich war es ein Verandapfosten mit Justins Gesicht.«
Eves Lächeln verblasste. Sie blätterte das Manuskript in dem Karton durch. »Na schön, lesen wir.«
Also lehnten wir uns auf dem Bett zurück und fingen an, uns abwechselnd Kapitel vorzulesen. Etwas begann sich zu lösen, als wir die Seiten umblätterten. Justin hatte während der vergangenen Wochen ziemlich viel geschrieben, und manche Stellen waren ihm unglaublich gut gelungen. Es gab neue Protagonisten, wie ich feststellte: Arianne, das gefühlvolle Hippie-Kind, war Justins Mutter, wie ich wusste. Kaltos, der barsche, tätowierte Palastwächter mit der groben Sprache war Daddy. Es gab Leute aus der Stadt, mit denen wir aufgewachsen waren: die Hudsons, die Knights, die Barringtons, die jetzt zu Fledermäusen, Katzen und Vögeln geworden waren, die in Reimen sprachen.
Und dann … dann gab es Eve. Ich blätterte die folgenden Seiten
durch, überflog die Worte, und die Kehle schnürte sich mir beim Lesen zu.
Morwyn war mit Gaelin frisch verheiratet, beide lebten auf einem Glasberg, den nur die Tugendhaften besteigen konnten. Die schöne, zauberhafte Feenkönigin Esmeralda mit ihrer dornigen Rosenkrone und ihren verführerischen Augen sieht Gaelin nur einmal, was ihr aber genügt, um sich in ihn zu verlieben. Sie behauptet, Morwyns lange verschollene Schwester zu sein, und verzaubert sie mit einem Schlaftrunk. Dann ruft sie eine Krähenschar, die an der schlafenden Morwyn vorbei den Glasberg hinauffliegen, wo Gaelin um seine verlorene Braut trauert. Und sie tragen Gaelin mit sich
Weitere Kostenlose Bücher