Auf ewig und einen Tag - Roman
eisernes Band. »Könntest du bitte gehen? Ich kann mir das im Moment nicht anhören.« Seltsam, wie hell, wie melodisch meine Stimme klang.
Aber die Stille nach seinen hervorgestoßenen Worten war laut, fast schmerzhaft. Er machte einen Schritt nach vorn, einen zurück, zog den anderen Fuß nach, wie die gestelzten Bewegungen
bei einem Reihentanz. »Ist gut, schon gut, Kerry, ich weiß, du musst jetzt allein darüber nachdenken. Ich bin zu Hause, wenn du mit mir reden möchtest. Wenn du mich anbrüllen möchtest, verstehe ich das. Oder mich schlagen möchtest - was immer du nötig hast. O Gott, Kerry, es tut mir so leid.« Er ging rückwärts zur Tür und rumpelte so schwer dagegen, dass der Boden erbebte. »Tut mir leid«, wiederholte er flüsternd, und dann war er fort.
Ich saß auf dem Bett und versuchte zu denken und gleichzeitig, nicht zu denken. Ich wusste, ich sollte etwas empfinden - zornig, verletzt, vielleicht sogar amüsiert sein. Was für ein Klischee: Mein Freund schlief mit meiner Zwillingsschwester. Ich versuchte zu lachen, brachte aber nur ein hohes, zitterndes Gurgeln heraus. Ich drückte die Handballen auf die Augen, aber hinter meinen Lidern stiegen unaussprechliche Bilder auf, die in der Dunkelheit noch deutlicher hervortraten. Eve. Justin. Sein Bett, Eves Bett, mein Bett, Rhythmen und Geräusche.
Ein heißer Strom fuhr mir durch die Brust. So fühlte sich also ein Herzinfarkt an. Nicht nur beengender Schmerz, sondern Ersticken, als quetschten Hände mein Herz und meine Lungen zusammen.
Ich umklammerte mein Kissen und versuchte zu atmen, ein und aus, ein und aus, ich bewegte meine Finger und spürte ihren Hals zwischen meinen Händen. Ich stellte mir Eve hinter Glas vor, wie sie im Biologieunterricht zwischen Fröschen herumkletterte und darauf wartete, bei lebendigem Leib seziert zu werden. In Todesangst huschte sie herum, prallte gegen die Glasglocke und formte tonlos mit den Lippen Verzeih mir, bevor sie in einen Ätherschlaf sank. Und ich stand da und sah mit dem Skalpell in der Hand lächelnd zu.
31
Etwas Seltsames passiert, wenn man große Wut empfindet. Es ist, als könnte der Körper sie nicht auf einmal bewältigen, also kommt sie in schwarzen, salzigen Wellen daher. Die Wut strudelt um dich herum, über dich hinweg, dann zieht sie sich zurück, bis du weißt, dass nichts von dir übrig ist außer Haut und Knochen und deiner Lunge, die rasselnd Luft einsaugt.
Ich weiß nichts mehr von diesen ersten paar Tagen, so vollständig war das Ertrinken. Ich weiß nicht mehr, was ich tat oder was ich dachte. Habe ich Eve oder Justin angesehen? Mit ihnen geredet? Ich bezweifle es, denn was zum Teufel hätte ich sagen sollen? Das Erste, woran ich mich wieder erinnere, ist der Plan, der ein paar Tage später in meinem Kopf entstand.
Kein richtiger Plan, eher eine verzweifelte Idee, und als ich das erste Mal daran dachte, hatte ich sicherlich nicht die Absicht, sie auch wirklich umzusetzen. Dennoch hielt sie mich aufrecht, gab mir etwas, worauf ich mich konzentrieren, woran meine Füße sich festkrallen konnten, damit die Welle mich nicht überwältigen und mit sich fortreißen konnte.
Es war später Nachmittag, und LoraLee pflanzte vor ihrem Haus Tomaten. Ich hatte angeboten, nach drinnen zu gehen und das verrostete Rohr zu holen, das sie als Schaufel benutzte. Und als ich aus dem Fenster auf das verfilzte Haar an ihrem Oberkopf sah, griff ich nach dem alten Buch. Das Buch, das ihn möglicherweise
zu mir gezogen hatte. Das Buch, das ihn möglicherweise zurückbringen würde.
Ich blätterte schnell die Seiten durch und suchte nach dem Kapitel, das ich vor Monaten gesehen hatte. Es ging um die verzweifelte Idee, die die Wellen der Wut zu einem dichten, salzigen Marmorblock pressten, der so kalt wie Meereis in meiner Brust steckte. Und ich konzentrierte mich auf diese Kälte, weil es wirklich das Einzige war, was ich hatte.
LoraLee schaukelte auf den Fersen hin und her, hielt dann plötzlich in der Bewegung inne, und ich erstarrte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen. »Kerry? Beim Tisch, siehst du’s?«
Ich griff nach dem Rohr. »Ich hab’s schon. Bin gleich da, ja?«
In dem Abschnitt mit der Überschrift »Giftpflanzen« gab es mehrere Seiten mit schraffierten Zeichnungen, wo in verschnörkelter Schrift Beeren, Blätter und Essenzen beschrieben wurden. Ich überflog die Zeilen und fühlte, wie sich mein Magen bei den Namen, die an
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