Auf Forsters Canapé: Liebe in Zeiten der Revolution (German Edition)
Wochen zu bleiben und in dieser Zeit Material für ein neues Buch, eine Geschichte der Revolution, zu sammeln. Aller Übermut ist inzwischen verflogen. Sie fahre eigentlich nur deswegen, weil sie die Überfahrt gebucht und bezahlt habe, schreibt sie ihrer Schwester Everina beklommen. Die Höhle des Löwen! Jeder weiß, daß es nur noch Tage oder Wochen dauern kann, bis Frankreich auch mit England im Krieg liegt. Dann ist sie in Feindesland. Das bloße Gerücht einer konterrevolutionären Intervention der Alliierten hatte die September-Massaker ausgelöst.
Niemand heißt Mary bei ihrer Ankunft in der Rue Meslée 22 (heute Rue Meslay) willkommen. Ihre Gastgeber, Madame und Monsieur Filliettaz, halten sich auf dem Lande auf und werden erst für Anfang des neuen Jahres erwartet. Den Dienstboten kann sie sich kaum verständlich machen. »Du wirst Dir leicht vorstellen können, wie ungeschickt ich mich benommen habe, ich war unfähig auch nur ein Wort herauszubringen, und wie gelähmt von den fremden Lauten, die um mich herumschwirrten.« Sie fühlte sich verloren in dem großen Haus mit seinen sechs Stockwerken, und seine nähere Umgebung war auch nicht anheimelnd. Gleich um die Ecke lag der Boulevard du Temple (auch Boulevard du Crime genannt), sozusagen die Reeperbahn von Paris, wo der Schausteller Philippe Guillaume Curtius und seine Gehilfin Marie Grosholtz, die spätere Madame Tussaud, ihren populären Salon de Cire betrieben. Ganz in der Nähe lag auch der namensgebende Temple, eine mittelalterliche, düstere Festung, einst der Sitz der Johanniter und Malteser, nun das Gefängnis für den König und seine Familie.
Unglücklich und krank – von einer schweren Erkältung, die sie sich unterwegs geholt hatte, war ein quälender Husten zurückgeblieben –, stürzt sich Mary in die Arbeit. »Ich will die Sprache so schnell wie möglich lernen – weil ich mich immerfort bemühe zu verstehen, was ich höre, gehe ich nie ohne Kopfschmerzen zu Bett – und ich bin ganz ermattet von der Anstrengung, mir ein gerechtes Urteil über die öffentlichen Angelegenheiten zu bilden – übermorgen erwarte ich, den König vor Gericht zu sehen – und ich habe Angst, mir die Folgen dessen vorzustellen.
28 Der Temple-Bezirk.
Zwei Tage später, am 26. Dezember, war sie Augenzeugin, als man Ludwig XVI . vor seine Richter führte.
Mary an Joseph Johnson:
»Heute morgen gegen neun Uhr kam der König an meinem Fenster vorbei. Er bewegte sich lautlos vorwärts (abgesehen von einigen Trommelschlägen dann und wann, die die Stille noch fürchterlicher erscheinen ließen), durch leere Straßen, umgeben von Nationalgarden, die sich um die Kutsche drängten und ihren Namen zu verdienen schienen. Die Bewohner hingen an den Fenstern, aber die Flügel waren alle geschlossen, man vernahm nicht eine Stimme, und ich sah nichts, was einer beleidigenden Geste geglichen hätte. – Zum erstenmal, seitdem ich nach Frankreich gekommen war, verneigte ich mich vor der Majestät des Volkes und war voller Hochachtung für den Anstand seines Benehmens, der mit meinen eigenen Empfindungen vollkommen übereinstimmte. Ich kann kaum sagen weshalb, aber eine Verbindung von Ideen machte, daß aus meinen Augen unwillkürlich Tränen flossen, als ich sah, wie Louis würdevoller als ich von ihm erwartet hätte in der einfachen Mietskutsche saß, und seinem Tod entgegenging, während so viele seines GeschlechtsTriumphe feierten. Meine Phantasie stellte mir Louis XIV vor Augen, wie er nach einem seiner ruhmvollsten Siege mit Pomp und Prunk in die Hauptstadt einzog, nur um mir dann zu zeigen, wie der Sonnenglanz des Reichtums von der Düsternis des Elends überschattet wird. Seitdem bin ich allein gewesen, und obwohl mein Gemüt ruhig ist, kann ich die Bilder nicht loswerden, die ich den ganzen Tag vor mir gesehen habe. – Nein, lächeln Sie nicht; denn ein- oder zweimal sah ich, wenn ich aufblickte, Augen, die mich durch die gegenüberliegende Glastüre anstarrten, und blutige Hände schüttelten mich. Ich kann nicht einmal das entfernte Geräusch eines Schrittes hören. – Meine Räume sind weit weg von denen der Bediensteten, die einzigen Personen, die mit mir in einem riesigen Haus schlafen, in dem sich eine Flügeltüre nach der anderen öffnet – ich wollte, ich hätte wenigstens die Katze bei mir behalten! – Ich möchte etwas Lebendiges sehen; der Tod hat in so vielen erschreckenden Gestalten von meiner Phantasie Besitz ergriffen. – Ich
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