Auf Forsters Canapé: Liebe in Zeiten der Revolution (German Edition)
wie von Schrecken ergriffen, fliehend vorwärts stürzte und die Brücke der Tuilerien überquerte. Bald vereinigten sich diese ungeordneten Menschenmengen wieder und griffen von neuem an. Gegen Abend war die Schlacht entschieden, und die Angreifer besetzten das Schloß.
Die wenigen Schweizer, die es geschafft hatten zu entkommen, flehten an der Türe der hôtels um Einlaß und Rettung; aber die Türen blieben erbarmungslos geschlossen. Ich sah einen jungenOffizier, der blutüberströmt und fast bewußtlos an der Türe unserer Herberge zusammengebrochen war und mit ersterbender Stimme flehentlich um nur ein Glas Wasser bat. Es ist mir, als höre ich ihn noch heute. Die Türe öffnete sich nicht. Ich rannte die Treppe hinunter, ich wandte mich an den Portier, ich bat ihn auf Knien, mit diesem Unglücklichen Mitleid zu haben, er wiederholte immerfort, sein Leben sei verwirkt, wenn er ihm Asyl gewähre. Dennoch gab er dem Verletzten, wonach er verlangte, besiegt durch meine inständigen Bitten. Der junge Schweizer trank das Glas Wasser, und einige Minuten später hauchte er sein Leben aus.
Sehr spät am Abend versuchte ich mich von den herzzerreißenden Eindrücken dieses Tages loszureißen, indem ich mich draußen auf die Terrasse unseres Gartens am Flußufer begab, um Luft zu schöpfen. Die Milde und Klarheit des Abends bot den denkbar größten Kontrast zum blutigen Durcheinander des Morgens. Man hörte nur das Murmeln des Wassers und von Zeit zu Zeit das qui vive! einer Patrouille. So sind die revolutionären Zeiten: immer abrupte Änderungen, plötzliche Gegensätze. Die Volksbewegungen kommen wie Erdbeben: Sie brechen aus, alles geht in ihrem Wüten unter, und wenn sie vorüber sind, herrscht Stille auf den Ruinen der Imperien.
Schon am 11. August schien die Ordnung wiederhergestellt; alles erschien so ruhig, daß einige Freunde mich durch ihr Drängen dazu brachten, in den Garten der Tuilerien zu gehen, wo alle Spuren der gestrigen Schlacht schon verschwunden seien. Wie entsetzt war ich daher, als ich beim Durchqueren des Gartens zwei Männer in Uniform bemerkte, die auf dem Rasen ausgestreckt waren und zu schlafen schienen: Sie waren tot! Das war der Tod, wie ihn Lord Byron geschildert hat, der Tod, an den sich noch die dahinschwindende Anmut des Lebens heftet. Ich hatte genug von diesem Anblick und beeilte mich, diesen unheimlichen Ort zu verlassen.«
War diese zweite Revolution, wie sie schon in den nächsten Tagen genannt wurde, unvermeidlich und notwendig gewesen,um die erste zu retten? Hatten sich König und Hof ihr Schicksal durch Halbherzigkeit und Verrat selbst zuzuschreiben? Damals, 1792, war Helen davon überzeugt – wie bis heute viele Historiker. Rückblickend hat sie sich dessen wohl geschämt. »Man hatte mich gelehrt, das Verhalten des Hofes zu tadeln«, schreibt sie. Man, das waren ihre girondistischen Freunde, das war aber auch John Hurford Stone.
Seit dem 13. August sitzen der König und seine Familie als Staatsgefangene im Temple, einem düsteren mittelalterlichen Gemäuer, das einst den Tempelrittern gehört hatte. Die Wahl zu einem neuen Konvent wird vorbereitet, ein Revolutionsgericht eingesetzt. Es gibt keine privilegierten Hinrichtungsarten für die Aristokraten mehr. Inzwischen ist eine neue, humane und egalitäre Tötungsmaschine im Einsatz. Ihren Prototyp hatte der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt konstruiert. Als sie das erstemal öffentlich eingesetzt wurde, murrte das Volk und verlangte den Galgen zurück.
»Heute muß man aus Menschlichkeit grausam sein«, proklamiert der Schriftsteller Nicolas de Chamfort. In diesen Tagen ist ein Offizier namens Paul Thiébault mit ihm und Helen bei den Bitaubés eingeladen, einem liebenswürdigen älteren Ehepaar. Monsieur Bitaubé, der aus einer französischen Emigrantenfamilie stammt und in Berlin aufgewachsen ist, ist ein kultivierter Herr mit schöngeistigen Neigungen. Er hat Homer ins Französische übersetzt, was ihm den Beifall Friedrichs des Großen und die Berufung in die Königliche Akademie der Wissenschaften eingetragen hat, und unter anderem ein Bibelepos – Josephe – geschrieben. Von Miss Williams weiß Thiébault nur, daß eine Veröffentlichung von ihr einiges Aufsehen erregt hat und man sie auf dem Weg zum Ruhm glaubt. Erstaunt stellt er fest, daß Chamfort, der von Frauen eigentlich nicht viel hält, sich heftig um sie bemüht.
»Ich weiß nicht, ob er einfach gefallen wollte oder warum er sie unbedingt in
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