Auf fremdem Land - Roman
wollte nicht in Schwierigkeiten verwickelt werden. Er wollte nicht, dass sie bei ihm an der Tür auftauchten oder in seinem Mailpostfach und ihn beschuldigten, Zerstörung angerichtet, die öffentliche Ruhe gestört, die Verhaltensregeln im Internet gebrochen zu haben. Und dazu kam noch, dass er es nicht fertigbrachte, so sehr er es auch versuchte, Freude über die Sprengung der Moschee zu empfinden. Er verstand nicht, weshalb er das getan hatte und für wen – wer waren diese Leute, seine vermeintlichen Freunde, eine sonderbare Gesellschaft von wer weiß wem und wer weiß woher: Texas? Deutschland? Die Nachbarsiedlung? Wozu sprengte er eine Moschee, einen Ort des Gebets? Er war ein gläubiger Mensch, der selbst oft das Gebetshaus aufsuchte.
King Meir spürte anscheinend etwas, denn er fragte: »Was ist los, Jakir? Alles in Ordnung?« Wenn Second Life einen Gesichtsausdruck hätte wiedergeben können, hätten Jakirs Gefährten jetzt ein blasses, gequältes Gesicht gesehen. Er hörte, wie sich sein Vater am Telefon verabschiedete, mit Segenswünschen zu Rosch Haschana: ein gutes neues Jahr und einen guten Eintrag im Buch des Lebens. Chatima tova – wie sollte er einen guten Eintrag verdienen? Wie konnte er seinem Schöpfer in die Augen schauen? Er hatte ein Verbrechen begangen, hatte gesündigt, und jetzt würde er seine Strafe bekommen. Wäre es in Second Life möglich gewesen, echte Augen zu sehen, hätten die jubelnden messianischen Juden auf der Insel »Wiedererrichtung« in verstörte Augen geblickt, die wie die einer Labormaus hin- und herflitzten.
Die Schritte seines Vaters näherten sich, und Jakir verließ Second Life fluchtartig, schaltete den Computer aus und ging rasch in die Hocke, um die Internetverbindung zu trennen, das Stromkabel herauszuziehen, und exakt in dem Moment, in dem die Frage kam: »Jakir, was machst du da unten? Ist was mit dem Computer passiert?«, ergoss sich ein gewaltiger hellbrauner Schwall aus seinem Mund, gesprenkelt mit Fleischbröckchen, Teigstückchen, Kartoffeln und Fruchtfasern, und darauf noch einer und noch einer, unter schweren Erschütterungen seiner Brust und schrecklichem Würgen. Tränen stiegen in seinen Augen auf, während die Wellen in ihm hochschlugen und aus ihm herausbrachen, seinen Magen restlos leerten und er sich weiter krümmte und galligen Speichel spuckte, der einen grauenhaften Geschmack hinterließ. Otniel legte seine großen, warmen Hände auf seinen zitternden Sohn, streichelte mit einer zärtlich seinen Nacken, reichte ihm mit der zweiten ein Glas Wasser und sagte nichts außer: »Kleine Schlucke, kleine Schlucke, ganz kleine.«
Die Ausziehenden
Einige Tage nachdem die Geheimdienstinformantin Jenia Freud aus dem Dunkel ans Licht getreten war, bestellte Otniel sie und ihren Mann Elazar zu einer Unterredung unter sechs Augen. Anfänglich hatte Otniel die wenigen Mitwisser – Nir Rivlin, Chilik Jisraeli und seine Frau Rachel – gebeten, die Entdeckung nicht zu verbreiten, damit keine Unruhe entstand. Er torpedierte Chilik immer wieder mit seiner Idee, dass es sich vielleicht lohnen würde, Jenia als Doppelagentin einzusetzen, als Maulwurf. Und vielleicht könnten sie ja über sie an Informationen über die Pläne der Sicherheitskräfte gelangen, was die Evakuierung, den Zaunbau und weiteres anging?
Doch als Gerüchte durchzusickern begannen und sich über den ganzen Hügel zu verbreiten drohten, begriff Otniel, dass die Sache nicht unter Verschluss gehalten werden konnte. Er traf die Entscheidung, die Bewohner selbst auf den neuesten Stand zu bringen, um heißgelaufene Telefone und überflüssigen Stress zu vermeiden und um sie zu warnen, dass sie bei der Wache nicht einschlafen sollten. Das Gespräch mit Jenia und Elazar war der Auftakt für die allgemeine Aufklärung der Stützpunktbewohner.
»Elazar, erklär mir noch mal, was du machst, etwas mit Computer, stimmt’s?«, eröffnete Otniel.
»Ich bin Manager für Werbekampagnen bei Google für einige Firmen, teils Jerusalemer, teils amerikanische, die meisten im Bereich der Printindustrie …«
Otniel nickte lächelnd, doch er war abgelenkt, da Rachel eine Kanne Kaffee und einen Kuchen, den Jenia gebacken hatte, auf den Tisch stellte. Er hörte nicht zu. Jenia rieb ihre Fingerspitzen aneinander. Sie lächelte dankbar, als Rachel ihr Kaffee einschenkte, ihre geröteten Augen verrieten nächtelangen gestörten Schlaf. Elazar wirkte noch angespannter als sie, sein Adamsapfel war hyperaktiv. Es
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